nd-aktuell.de / 23.03.2021 / Politik / Seite 3

To be or not to Bibi

Über sechs Millionen Israelis entscheiden über das Schicksal des unter Korruptionsverdacht stehenden israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu

Markus Bickel, Tel Aviv

Die schärfsten Gegnerinnen und Gegner des amtierenden Ministerpräsidenten hatten am Wochenende zum letzten Gefecht geblasen: Das 39. Wochenende in Folge mobilisierte die Protestbewegung gegen Benjamin Netanjahu, der seit 2009 in wechselnden Koalitionen regiert, noch einmal das ganze Land. Am Samstag demonstrierten Tausende Menschen vor der Residenz des Premiers in Jerusalem und forderten seinen Rücktritt. Die Menschen schwenkten Fahnen und trugen Plakate über die Notwendigkeit einer »Revolution«. Die Kundgebung am Samstagabend war der größte Protest, den das Land seit Monaten gesehen hat. Die in der Graswurzel-Protestbewegung engagierten Israelis zeigten so deutlich den Missmut über die Korruptionsaffären ihres Regierungschefs und seinen Kurs in der Corona-Krise mit hohen Infektionszahlen und langen Lockdown-Phasen, bei denen viele Menschen ihren Job verloren.

Doch zurücktreten wird der wegen Bestechlichkeit, Betrug und Untreue angeklagte Netanjahu, den Freund wie Gegner nur Bibi nennen, sicherlich nicht. Denn dazu ist er seinem Ziel, abermals im Amt bestätigt zu werden, viel zu nahe. An diesem Dienstag stellen sich der Vorsitzende und Dutzende weitere Kandidaten des nationalkonservativen Likud abermals zur Wahl - bereits zum vierten Mal in zwei Jahren wird die israelische Knesset neu gewählt. Und wie nach den letzten drei Urnengängen wird Netanjahu alles daran setzen, eine Koalition zu schmieden, die ihm im Parlament Immunität gegen eine Anklage verschaffen könnte.

Die Chancen dafür stehen nicht schlecht, auch wenn sein bislang größter Koalitionspartner, das Blau-Weiß-Bündnis (Kahol Lavan) von Verteidigungsminister Benny Gantz, künftig nicht mehr mit Netanjahu regieren will. Der einstige Hoffnungsträger des liberal-konservativen Bürgertums hatte vor einem Jahr sein wichtigstes Wahlkampfversprechen gebrochen, dem Langzeitregierungschef nicht zu einer neuen Mehrheit zu verhelfen. Das haben seine Anhänger dem früheren Generalstabschef der israelischen Armee nicht verziehen - lediglich eine Handvoll Abgeordnete dürfte Blau-Weiß in der neuen, 120 Sitze zählenden Knesset Umfragen zufolge künftig noch stellen.

Größter Konkurrent Netanjahus um den Job an der Regierungsspitze ist nun Yair Lapid, der Vorsitzende der liberalen Partei Jesh Atid (Es gibt eine Zukunft). In den vergangenen Wochen gelang es ihm, sich abzusetzen von Gideon Saar, einem langjährigen Verbündeten Netanjahus, der den Likud verlassen und die Partei Tikva Hadasha (Neue Hoffnung) gegründet hat - mit dezidiert rechten Positionen gegen Arbeitsmigranten und für eine dauerhafte Besetzung der palästinensischen Gebiete. Anders als Lapid, der auf eine Koalition mit der linksliberalen Meretz und der Arbeitspartei Awoda setzt, könnte Saar an der Spitze eines nationalkonservativen Blocks stehen, dem auch die Partei Yamina (Nach Rechts) von Naftali Bennet angehört. Die Forderung nach Annexion weiter Teile des Westjordanlands gehört fest zu dessen Programm.

Wie nach den vergangenen drei Wahlgängen droht sich eine Regierungsbildung über Monate hinziehen, weil bislang für keinen der großen Blöcke eine stabile Mehrheit von mehr als 60 Sitzen in der Knesset in Sicht ist. Die linksliberale Meretz bangt zudem um den Einzug ins Parlament: eine hohe Wahlbeteiligung könnte dazu führen, dass sie an der 3,25-Prozent-Hürde scheitert. Und die vormals drittstärkste Parlamentsfraktion, die Gemeinsame Liste von vier arabischen Parteien, ist Anfang des Jahres zerfallen, was die Chancen für ein linkes Bündnis weiter schmälert. Der Grund: Der Vorsitzende der islamistischen Raam-Partei von Mansur Abbas rechnet sich Chancen aus, als Königsmacher Netanjahu zu einer knappen Mehrheit zu verhelfen - und dafür mit einem Kabinettsposten bedacht zu werden. Darauf setzt auch Yamina-Chef Bennett.

Doch das sind nur zwei von mehreren möglichen Szenarien. Denn selbst wenn es Netanjahu gelingen sollte, gemeinsam mit den religiös-rechtsgerichteten Parteien Schas, Vereinigtes Thora-Judentum, Religiöse Zionisten sowie Yamina eine Koalition zu bilden, wäre diese sicherlich nicht von Stabilität geprägt. Gleiches gilt für ein Bündnis unter Führung von Yair Lapid oder Gideon Saar - gemeinsam mit Yamina, Blau-Weiß, Unser Israel (Israel Beitenu) von Ex-Außenminister Avigdor Liebermann, der Arbeitspartei und vielleicht Meretz. Was die ungleichen Politiker eint, ist der Wunsch, Netanjahu endlich abzulösen - ein Projekt, das die ideologischen Differenzen nicht lange überdecken dürfte. Insofern ist nicht ausgeschlossen, was fast schon zur Routine geworden scheint in Israel: ein weiterer Wahlgang in sechs Monaten.