nd-aktuell.de / 27.03.2021 / Wissen / Seite 23

Die Bausteine der Abwehr

Was in unserem Körper abläuft, wenn das Immunsystem von einem Krankheitserreger oder einem Impfstoff in Gang gesetzt wird.

Martin Holtzhauer

Jeder, der schon einmal geimpft wurde, kennt das: Der Piks tut nur kurz weh, aber dann, nach vielleicht einem Tag, ist die Stelle um den Einstich gerötet, der Arm schmerzt und vielleicht hat man auch ein bisschen Fieber. Was passiert da mit uns?

In dem Impfstoff, der verabreicht wurde, befindet sich ein Stoff - das kann ein einzelnes Eiweiß, ein abgeschwächtes oder abgetötetes Virus oder Bakterium oder Teile davon sein - der uns widerständig gegen zukünftige Infektionen, »immun« machen soll. Den Stoff bezeichnet man als Antigen - eine für molekulare Verhältnisse große Struktur, die eine Immunantwort des Körpers provoziert.

Nach dem Einspritzen der Antigenlösung (Impfstoff) verteilt sie sich zwischen den Arm-Muskelzellen in der sogenannten interzellularen Flüssigkeit. Diese ist im ständigen Austausch mit der Lymphe, einer Körperflüssigkeit, die im lymphatischen System zirkuliert. Das lymphatische System wiederum steht mit dem Blutkreislauf in Verbindung. Bei den neuartigen Impfstoffen wie bei dem von Biontec, Astra-Zeneca, Gamaleya etc. gibt es einen kleinen Umweg: Da wird der Bauplan für das Antigen in Körperzellen gespritzt und die erst produzieren Antigene.

Die Lymphe setzt sich wie das Blut aus zwei Hauptkomponenten zusammen: aus einer wässrigen Lösung von Proteinen (Eiweißen) und frei schwimmenden Zellen, den farblosen Lymphozyten, einer Untergruppe der Leukozyten, der »weißen Blutkörperchen«. Im Blut kommen die kräftig rot gefärbten Erythrozyten hinzu - die »roten Blutkörperchen« - und weitere Zellarten.

Erkennungsdienst im Blut

All diese Zellen werden im Knochenmark gebildet. Dort entstehen zuerst pluripotente Stammzellen, in deren ersten Lebensphasen noch nicht entschieden ist, was sie werden. Erst im Zuge weiterer Differenzierungen entstehen daraus Erythrozyten- und Lymphozyten-Vorläufer. Die Lymphozyten-Vorläufer differenzieren sich noch weiter. Drei Haupttypen der Lymphozyten entwickeln sich dabei: die B- und T-Zellen und die Granulozyten. Charakteristisch für alle diese Zelltypen ist, dass sie im Zuge ihrer Entwicklung an ihrer Oberfläche Proteinstrukturen ausbilden, die wiederum andere Strukturen, meist ebenfalls Proteine, binden (»erkennen«) können. Diese Oberflächenproteine bezeichnet man als Rezeptoren und sie sind in B- und T-Zellen etwas unterschiedlich aufgebaut.

So ausgestattet gelangen die Lymphozyten ins Blut und darüber auch in die Lymphe. Bindet sich ein Lymphozyt über seine Rezeptoren an eine körpereigene Zellstruktur, ist dieser Lymphozyt in der Regel zum Tode verurteilt. Wird dieses Todesurteil nicht vollzogen, können sich Autoimmunkrankheiten entwickeln - aber das ist ein anderes Kapitel.

Die Lymphozyten, die nicht aussortiert wurden, werden nun im Blut- bzw. Lymphstrom durch den Körper getragen, können sich zwischen Zellen der unterschiedlichsten Gewebe hindurchquetschen und versammeln sich in den Lymphknoten und der Milz. Und dabei treffen sie auf Körperfremdes, das auf natürlichem Wege (Infektion, Verletzung) oder eben durch Impfen eingedrungen ist. Passt nun ein Antigen zum Rezeptor eines Lymphozyten, sendet der ein Signal an andere Lymphozyten: »Hallo Freunde, ich hab‘ was!«. Die so aktivierte Immunzelle teilt (vermehrt) sich. Die Immunzellen »verständigen« sich mithilfe hormonartiger Proteine, den sogenannten Zytokinen und Interferonen. Einige der T-Zellen werden durch diese Signale zu Killerzellen. Die werden in der Wissenschaft tatsächlich so genannt, weil sie in der Lage sind, den Eindringling zu vernichten. Ein anderer Teil der T-Lymphozyten wird zu Helfer-Zellen. Helfer deshalb, weil sie den B-Lymphozyten, die ebenfalls ein passfähiges Rezeptormuster für das jeweilige Antigen haben, bei ihrer Weiterentwicklung zu Plasmazellen helfen. Diese Ansammlung von Lymphozyten und ihre vermehrte Stoffwechseltätigkeit führt zu was? Richtig: Schwellung, Rötung, vielleicht auch Fieber. Bei fiebrigen Erkrankungen können so auch die Lymphknoten anschwellen.

Jetzt kommt der große Auftritt der Plasmazellen, einer Spezialisierungsform der B-Lymphozyten. Sie vermehren und verwandeln sich in Bioreaktoren, die nur noch eine Aufgabe haben: Sie produzieren Antikörper, die über eine Bindungsstelle für genau das Antigen verfügen, das zuvor an die Rezeptoren der Immunzellen gebunden hatte. Die Stelle, an die sich der Rezeptor andockte - das sogenannte Epitop -, ist winzig im Vergleich zum Gesamt-Antigen des »Feindes«. Jeder durch Antigenbindung aktivierte Lymphozyt teilt sich viele Male in genetisch identische Zellen - es entstehen Zell-Klone.

Die Plasmazellen beginnen also, Antikörper herzustellen und in das Blut abzugeben. Die Antikörper sind Proteine, die, wie die meisten Antigenrezeptoren, nach dem gleichen Schema aufgebaut sind. An einer langen (»schweren«) Kette von Aminosäuren ist eine kürzere (»leichte«) Aminosäurekette angelagert und dort, wo die Enden der leichten und schweren Kette zusammenkommen, befindet sich die Antigen-Bindungsstelle, das Paratop.

Es gibt nun verschiedene Typen von Antikörpern (Immunglobuline, kurz Ig, veraltet Gammaglobuline), die mit den Buchstaben A, D, E, G und M bezeichnet werden. Der kleinste Typ sind die IgG, das ist aber immer noch 7500-mal größer als ein Wassermolekül. Die IgG-Moleküle sehen wie ein Mittelding zwischen einem T und einem Y aus, wobei die »Querstriche« aus einer Verbindung von leichten und schweren und der senkrechte Strich aus den verbleibenden Anteilen der schweren Ketten gebildet werden. Die IgA scheinen auf den ersten Blick aus zwei über die langen Ketten verbundene IgG zu bestehen, die IgM aus fünf IgG, haben also zehn Bindungsstellen - Haftstellen - für das gleiche Epitop am jeweiligen Antigen.

Antikörper und Killerzellen

Beim Antikörper-Produktionsstart in Plasmazellen werden zunächst IgM gebildet, die ein bis zwei Tage nach Beginn der Infektion im Blut nachgewiesen werden können (Stichwort: Antikörper-Test). Nach wenigen Tagen erreicht die IgM-Menge im Blut ihr Maximum und geht dann wieder zurück bis zum Normalwert. Etwas zeitversetzt werden - länger anhaltend und in viel größeren Mengen - IgG gebildet. Nach einer erneuten Infektion bzw. einer zeitlich nicht zu fern liegenden zweiten Impfung wird besonders die IgG-Bildung angefeuert, was sich bei einer Laborbestimmung in einem als Titer bezeichneten hohen Wert ausdrückt.

Um sich eine Vorstellung über die Antikörpermengen außerhalb einer akuten Infektion (oder Impfung) zu machen: In einem Milliliter Blut liegt der IgG-Gehalt bei etwa 0,0004 bis 0,0008 Gramm (das sind ungefähr 2000 Billionen IgG-Moleküle!), die IgM-Menge ist ungefähr ein Zehntel dessen, bei den anderen Immunoglobulinen noch viel geringer. Während die IgA vorwiegend in den Schleimhäuten des Verdauungstrakts und der Atemwege vorkommen, sie also die Vorposten sind, tragen die IgG und IgM die Hauptlast der sogenannten humoralen Immunabwehr im Blut. »Humoral« kommt von »Humores«, einer alten medizinischen Bezeichnung für Körperflüssigkeiten - die Infektabwehr ist für den betroffenen Organismus allerdings ganz und gar nicht humor-voll!

Wenn sich ein Antikörper an ein Antigen gebunden hat, verändert sich seine Struktur etwas. Infolgedessen können sich darauf spezialisierte Typen von Rezeptoren daran binden. Diese Rezeptoren können übrigens auch Antikörper, gewissermaßen Anti-Antikörper, sein. In diesem Fall entstehen Immunkomplexe: Wenn diese nicht rechtzeitig abgebaut werden, führen sie zu Ablagerungen (Plaques) auf Gefäßwänden - auch eine mögliche Ursache für Blutgerinsel (Stichwort Thrombose) - oder in Gelenken. Letzteres ist eine Ursache für rheumatische Entzündungen.

Rezeptoren für die Antikörper-Antigen-Komplexe befinden sich aber vor allem bei weiteren Leukozyten-Gruppen: den Makrophagen und Granulocyten. Makrophagen machen ihrem Namen alle Ehre: Sie sind groß (»Makro«) und haben ihren Lebenszweck im »Auffressen« (phageín - fressen) von Antikörper-behafteten Antigenen.

Einige aktivierte B-Zellen beteiligen sich nicht an der Antikörperproduktion. Sie ziehen sich mit ihrer Fähigkeit zur Antikörperproduktion gegen ein spezielles Antigen in ruhigere Gefilde zurück und bilden so das immunologische Gedächtnis. Das heißt: Kommt ein bestimmtes Antigen wieder angeschwommen, wachen sie auf, teilen sich und produzieren nun so wie früher Antikörper, müssen aber den ganzen Differenzierungsprozess nicht neu durchlaufen. Allergiker können ein Lied davon singen, wie schnell ihr Körper auf den Kontakt mit Allergenen reagiert. Da sind vor allem die IgE beteiligt. Wie lang das immunologische Gedächtnis bestehen bleibt, ist individuell unterschiedlich und auch vom Antigen abhängig.

Neben der humoralen Immunabwehr gibt es noch die zelluläre. T-Killerzellen und Makrophagen wurden schon erwähnt, dazu kommen weitere Zelltypen, u. a. die »Weiterentwicklung« der Granulozyten, die Mastzellen. Alle diese Zellarten haben an ihrer Oberfläche ebenfalls Rezeptoren, die Antigen-Strukturen auf Bakterien, Pilzen oder Viren auch ohne Antikörpervermittlung binden können. Eine solche spezifische Bindung ist dann das Signal, den Rezeptor samt Anhang in das Zellinnere zu verfrachten und dort abzubauen. Wenn an einem Ort im Organismus besonders viele Eindringlinge auftreten und sich Immunzellen »überfressen« und daran sterben, dann kann sich Eiter bilden, wenn die toten Zellen nicht schnell genug durch Lymphe und/oder Blut abtransportiert werden - ein unschöner, aber natürlicher und in geringen Mengen auch ungefährlicher Prozess.

Soweit ein kurzer, stark schematisierter Blick auf Prozesse zur Abwehr ansonsten lebensbedrohlicher Gefahren, wie sie in allen Wirbeltieren zu finden sind. Diese Abwehr entwickelt sich nach der Geburt - wir Säugetiere bekommen unseren ersten Immunschutz mit der Muttermilch, Vögel liefern ihn ihren Küken im Dotter mit. Diese Abwehr begleitet uns mehr oder minder aktiv und fehlerarm ein Leben lang. Und wir Menschen können schneller sein als Viren und Bakterien: Wir können Impfstoffe entwickeln und durch Impfung einen wirksamen Schutz vor einer gefährlichen Infektion aufbauen. Das war - neben verbesserter Hygiene - seit den Pocken so und gilt jetzt erst recht in Zeiten von Covid-19.