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Amazon-Gewerkschaftswahl in Alabama: «Weiter gekommen als jeder andere»

Angestellte von Amazon und Aktivisten hoffen auf eine neue Welle von gewerkschaftlichen Aktivismus in den USA

  • Moritz Wichmann
  • Lesedauer: 6 Min.

In den letzten Tagen wurde noch einmal um jede Stimme gerungen, mit aggressiver Konzernrhetorik auf der einen Seite und kämpferischer Unterstützung für die Amazon-Arbeiter durch Bernie Sanders und weitere Prominente auf der anderen Seite. Heute geht die seit zwei Monaten andauernde Wahl zur Anerkennung einer Gewerkschaft im Logistikzentrum von Amazon, in Bessemer in Alabama, zu Ende. «Die Geschichte zeigt: Die Reichen geben euch nichts ohne Kampf, ihr seid an vorderster Front, was ihr hier tut, ist historisch», so Sanders.

Wie historisch die gewerkschaftliche Organisation der rund 6000 Lagerhausarbeiter wäre – die meisten von ihnen sind Afroamerikaner – zeigt nicht nur die Tatsache, dass es ein Novum für den Onlinekonzern wäre, der in den USA bisher gewerkschaftsfrei ist, sondern auch eine Berechnung des Wirtschaftsblattes Bloomberg. Sollte die «union election» (zu Deutsch: Gewerkschaftswahl) erfolgreich sein, wäre es der größte politische Gewinn für Gewerkschaften in den USA seit 1991, hat das Wirtschaftsblatt ausgerechnet. Damals stimmten 7000 Arbeiter einer Werft in Maine erfolgreich für eine Gewerkschaftsvertretung. Seither scheiterten Abstimmungen oder umfassten nur deutlich weniger Beschäftigte.

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Damit es auch in diesem Fall dazu kommt, versuchte die Amazon PR-Abteilung am Wochenende Verwirrung zu sähen, stellte sich als fortschrittlicher Arbeitgeber dar und polemisierte gegen Sanders. Amazon sei der «Bernie Sanders der Arbeitgeber, aber das stimmt nicht ganz, weil wir tatsächlich liefern und einen Mindestlohn von 15 Dollar, eine Krankenversicherung ab dem ersten Tag, Karriereaussichten und eine sichere und inklusive Arbeitsumgebung bieten», erklärte Dave Clark, Präsident von Amazons Global Consumer Unit, auf Twitter.

Dagegen brach ein Sturm der Entrüstung auf dem Kurznachrichtendienst los. «20.000 Amazon-Mitarbeiter haben sich mit Corona infiziert, ihr habt das vertuscht und dann Whistleblower, die unsichere Arbeitsbedingungen bekannt gemacht haben, gefeuert», schrieb etwa die linke Demokratin Ilhan Omar. Clark polemisierte auch, Sanders habe es nicht einmal in Vermont geschafft, den Mindestlohn auf die von ihm geforderten 15 Dollar zu erhöhen, ließ aber unerwähnt, dass der Konzern dies 2018 auch auf Druck von Sanders selbst – und weil er dank sehr niedriger Arbeitslosigkeit kaum noch Mitarbeiter fand – getan hatte. Beschäftigte vor Ort stellten klar: die angepriesene Krankenversicherung des Konzerns sorgt für hohe Rechnungen und Zuzahlungen durch die Beschäftigten selbst.

Wie stimmen die Jungen und Unentschiedenen ab?

Per Briefwahl hatten viele Beschäftigte in Bessemer schon vor Wochen abgestimmt, ob sie in Zukunft von der Retail, Wholesale and Department Store Union (RWDSU) vertreten wollen werden. Dabei war in den letzten Wochen ein bei näherem Hinsehen verständlicher Generationenkonflikt zu Tage getreten. Es waren vor allem ältere Arbeiter wie Daryl Richardson gewesen, die die Kampagne zur gewerkschaftlichen Organisierung angestoßen hatten. Der 51-Jährige hatte zuvor bei einem gewerkschaftlich organisierten Autozulieferer gearbeitet und dort einen höheren Stundenlohn verdient als bei Amazon. Die nur wenige Meilen entfernte Bürgerrechtsstadt Birmingham war vor einigen Jahrzehnten auch eine Stahlstadt – mit Gewerkschaftstradition. Doch darin erinnern sich nur noch die Alten.

Doch viele Beschäftigte, die an den Sortierbändern im Amazon-Lagerhaus in Bessemer stehen, sind junge Afroamerikaner. Was Gewerkschaften tun, haben sie noch nie erlebt. Stattdessen sind die jungen Amazon-Mitarbeiter in Bessemer in einem Staat aufgewachsen, der politisch von Anti-Gewerkschaftspropaganda dominiert ist. Wie anderswo landesweit sind Gewerkschaften in der Erzählung von Republikanern und Unternehmerverbänden in Alabama bestimmt durch korrupte Funktionäre, die das Geld fleißiger Arbeiter einstecken. Mit einer aggressiven Kampagne versucht Amazon vor Ort seit Monaten Arbeiter abzuschrecken, für die Gewerkschaft zu stimmen.

Wie das linke Onlineportal The Intercept berichtet, waren zuletzt vor allem junge Arbeiter unentschlossen, hatten noch nicht mit «Ja» oder «Nein» abgestimmt. Zu erklären ist das einerseits mit den ökonomischen Bedingungen vor Ort: Die Armutsrate in Bessemer ist fast doppelt so hoch wie die landesweite, das Durchschnittseinkommen liegt bei nur 1500 Dollar pro Monat. Da sind die 15-Dollar-Stundenlohn, die Amazon zahlt, nicht nur für die jüngeren Anwohner attraktiv - trotz hoher Arbeitsanforderungen. Einige junge Arbeiter sehen den Konzern als erfolgreiches Karrieresprungbrett, bei ihnen hat der Konzern ein gutes Image.

Andererseits hatten jüngere Afroamerikaner im US-Süden sowohl 2016 als auch 2020 bei den Demokraten-Vorwahlen mehrheitlich für Bernie Sanders gestimmt. Vielleicht konnte er also mit seinem Auftritt am Wochenende noch letzte Zweifler umstimmen. Mindestens 51 Prozent müssen mit «Ja» stimmen. Rund 3000 Arbeiter hatten in den Vormonaten sogenannte «union cards» zur Unterstützung der Gewerkschaft ausgestellt. Doch weil viele nur kurze Zeit bei Amazon arbeiten (sogenannte «turnover»), dürften einige dieser Karteninhaber bereits nicht mehr bei Amazon arbeiten. Reporter vor Ort erwarten ein knappes Ergebnis.

Eine neue Welle von Gewerkschaftsaktivismus?

«Wenn ihr hier erfolgreich seid, werden sich Arbeiter im ganzen Land sagen: »Wenn sie es in Alabama schaffen, sich mit dem reichsten Mann der Welt anzulegen, dann können wir das auch«, erklärte Sanders auf einer Kundgebung. Es gibt Anzeichen dafür, dass besonders eine erfolgreiche Gewerkschaftswahl eine regelrechte Flut von gewerkschaftlichem Organizing und Arbeiterbasisaktivismus bei dem Onlinekonzern auslösen könnte, dessen Profite 2020 über 80 Prozent gewachsen sind, der aber im letzten Sommer eine zwischenzeitlich gezahlte Pandemie-Zulage von zwei Dollar pro Stunde wieder strich.

Über 1000 Arbeiter aus dem ganzen Land hätten die RDWSU kontaktiert, ob diese bei der Wahl einer gewerkschaftlichen Vertretung in ihrem Lagerhaus helfen, so Gewerkschaftschef Stuart Appelbaum. In Baltimore, New Orleans, Portland und Denver haben Arbeiter bereits neue Kampagnen gestartet, um eine gewerkschaftliche Vertretung zu erkämpfen.

Die Hoffnung von Aktivisten: Ein Erfolg bei Amazon könnte eine Kettenreaktion auslösen und die am Boden liegende US-Gewerkschaftsbewegung – aktuell sind nur noch sechs Prozent der Beschäftigten Mitglied einer Gewerkschaft – auf die Beine helfen, nicht nur beim zweitgrößten Arbeitgeber im Land. »Es ist einer der wichtigsten Prinzipien der Organizing, Erfolg gebiert Erfolg«, so Benjamin Sachs, Professor an der Harvard Law School gegenüber dem Tech-Portal The Verge.

Der Start von »selbstverstärkenden Siegeszyklen« durch eine und weitere Gewerkschaftswahlen könnte laut einer Studie auch die Löhne von Beschäftigten in Nachbarschaft zu Amazon-Lagerhäusern anheben. Es wäre die Umkehr eines Trends, bei welchem Amazon im Logistikbereich die Preise nach unten treibt und gleichzeitig andere Lagerunternehmen das Mitarbeiter-Überwachungs- und Trackingsystem von Amazon in dem Versuch übernehmen, mit dem Digitalkonzern zu konkurrieren.

Lesen Sie auch: Den Algorithmus überwinden - In Italien streiken Amazon-Beschäftigte gegen Ausbeutung und Arbeitsdruck

Ab Dienstag beginnt aber zunächst das National Labor Relations Board (NLRB) mit der Auszählung der Stimmen aus Bessemer. Ein Ergebnis könnte in etwa einer Woche vorliegen, das zeigen vergangene Gewerkschaftswahlen. Die RWDSU macht sich derweil selbst Mut: »Wir wussten immer, dass diese Kampagne nur der Beginn ist, egal was das Ergebnis sein wird«, so Gewerkschaftspräsident Appelbaum gegenüber CNN. »Wir haben die Tür für Gewerkschaften geöffnet und wir sind schon jetzt weiter gekommen als jeder andere in der Vergangenheit«.

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