nd-aktuell.de / 30.03.2021 / Politik / Seite 3

»Es gibt keine Vision für Gerechtigkeit«

Die Generalsekretärin von Amnesty International, Agnès Callamard, setzt bei Menschenrechtsverletzungen auf das Weltrechtsprinzip

Cyrus Salimi-Asl

In Ihrer Funktion als UN-Sonderberichterstatterin haben Sie eine Untersuchung zur Tötung des Journalisten Jamal Kaschoggi abgeschlossen - mit dem Ergebnis, dass Beamte aus Saudi-Arabien an der Ermordung beteiligt waren. Kürzlich hat Reporter ohne Grenzen (RSF) Deutschland eine Klage gegen saudische Offizielle, darunter Prinz Salman, eingereicht bei einem deutschen Gericht. RSF beruft sich dabei auf das Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit (Weltrechtsprinzip). Warum halten Sie eine solche Klage für wichtig?

Die Klage ist aus drei Gründen wichtig. Der erste Grund ist, dass wir wissen, dass die saudische Justiz nicht in der Lage oder nicht willens sein wird, den Drahtzieher hinter der Ermordung von Jamal Khaschoggi ins Visier zu nehmen und zu ermitteln. Wenn wir also Gerechtigkeit im formalen Sinne des Wortes wollen, dann müssen wir woanders suchen als in Saudi-Arabien. Nach Deutschland zu gehen ist also Teil einer effektiven Suche nach Gerechtigkeit.

Der zweite Grund ist, dass die Tötung von Jamal Khaschoggi meiner Meinung nach ein internationales Verbrechen ist. Ich denke, es weist Merkmale auf, die es besonders grausam machen, und es verstößt gegen eine große Anzahl von internationalen rechtlichen Bestimmungen. Ich verstehe, dass unter internationalen Verbrechen in der Regel solche verstanden werden, die in den Zuständigkeitsbereich des internationalen Strafgerichtshofs fallen, und deshalb neigen wir dazu, internationale Verbrechen so zu sehen, dass sie massive Menschenrechtsverletzungen beinhalten. Wenn man jedoch das juristische Argument betrachtet, gibt es keinen Grund, warum ein einzelnes Verbrechen nicht ein internationales Verbrechen sein könnte. Und an der Schwere des Verbrechens gibt es kaum Zweifel. Ich verstehe, dass dies ein kontroverses Thema ist, aber es ist ein wichtiges Argument, weil wir sicherstellen müssen, dass die universelle Gerichtsbarkeit und die internationale Justiz für eine Vielzahl von Beschwerden funktionieren, nicht nur für die sehr massiven Verletzungen.

Und das führt zu meinem dritten Grund, der Prävention: Wenn wir diese Menschenrechtsverletzungen an diesem Punkt angehen können, in diesem Stadium, und möglicherweise bevor Tötungen stattfinden, wenn wir die internationale Justiz nutzen können für Fälle dieser Art, haben wir größere Chancen, weitere und massive Menschenrechtsverletzungen zu verhindern.

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) kann im Fall Khaschoggi nicht ermitteln, weil Saudi-Arabien dem Gerichtsstatut nie beigetreten ist. Als der IStGH 2002 seine Arbeit in Den Haag aufnahm wurde dies als ein großer Schritt in der internationalen Gerichtsbarkeit und für die Entwicklung des Völkerrechts begrüßt. Heute scheint die Situation ganz anders zu sein: Es gibt viel Widerstand von Staaten gegen seine Tätigkeit, zum Beispiel für den Versuch, Kriegsverbrechen zu untersuchen. Wie beurteilen Sie das Wesen des Internationalen Strafgerichtshofs, die Idee der universellen Strafgerichtsbarkeit, die hinter seiner Gründung steht, im Vergleich zu den realen Möglichkeiten, die der IStGH hat, um internationale Gerechtigkeit zu verwirklichen?

Die internationale Justiz ist ein komplexer Prozess, so wie der Justizprozess im Allgemeinen ein komplexer Prozess ist, um ein ordnungsgemäßes Verfahren und Fairness zu ermöglichen. Das gilt besonders auf internationaler Ebene. So war der Internationale Strafgerichtshof in vielerlei Hinsicht ein großer Durchbruch für die internationale Gemeinschaft, hat es bis jetzt aber nicht geschafft, die Erwartungen zu erfüllen. Und jeder erkennt das an: Es gibt verfahrenstechnische Probleme, politische Probleme und eine Reihe von anderen Einschränkungen.

Das Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit, das sogenannte Weltrechtsprinzip, das im Fall von Saudi-Arabien angewendet wurde, ist etwas anders. Es ist noch nicht so weit angewendet worden, wie es könnte. Ich persönlich habe im Moment eine Reihe von Fällen konstatieren können, die nach dem Prinzip der universellen Zuständigkeit vor ein deutsches Gericht, ein schwedisches Gericht oder ein französisches Gericht gebracht worden sind. Ich denke, dass die internationale Gerichtsbarkeit nach wie vor eine zentrale Rolle bei der Suche nach Gerechtigkeit in Fällen wie Syrien oder Jemen oder auch Saudi-Arabien spielt, wo die Länder eindeutig nicht bereit sind, ihren Verpflichtungen in Bezug auf einen Prozess nachzukommen.

Die universelle Gerichtsbarkeit war also bislang relativ unerforscht, oder sie wurde sicherlich zuweilen nicht in vollem Umfang erforscht. Jetzt gibt es Nichtregierungsorganisationen und Anwälte, die sich darauf spezialisiert haben, es gibt ein viel größeres Maß an Expertise und Verständnis, auch auf der Ebene der Richter. Ich denke also, wir werden mehr und mehr solcher Fälle sehen und das ist gut so. Wir werden nicht immer erfolgreich sein, aber wir müssen weiter nach Wegen suchen, um Gerechtigkeit zu schaffen, wenn das offensichtliche Instrument nicht in der Lage oder nicht willens ist, es zu tun.

Es gab in der Vergangenheit Vorwürfe über außergerichtliche Hinrichtungen, die mutmaßlich von israelischen Streitkräften in den palästinensischen Gebieten begangen wurden, um »Terroristen« zu töten. Wie beurteilen Sie solche Fälle?

Dazu kann ich nur allgemein etwas sagen, über konkrete Fälle kann ich nicht sprechen. Nach den internationalen Menschenrechten sind derartige Tötungen rechtswidrig. Es wird immer extrem schwierig sein, sie auf Grundlage der internationalen Menschenrechte zu rechtfertigen. Die Tatsache, dass diese Personen nach dem innerstaatlichen Recht eines bestimmten Landes als Terroristen definiert sind, hat keinen Einfluss auf ein grundlegendes Prinzip: dass die Tötung im Einklang mit den Menschenrechten eine Reaktion auf eine unmittelbare bevorstehende Bedrohung des Lebens sein muss. Und wenn Sie die unmittelbare bevorstehende Bedrohung des Lebens nicht nachweisen können, dann ist die Hinrichtung ungesetzlich.

Da die meisten dieser Exekutionen ein hohes Maß an Planung und Organisation erfordern, ist es sehr schwierig, dass diese in Selbstverteidigung begangen wurden, wenn man die Standards zugrunde legt, die für die Definition von Selbstverteidigung im internationalen Recht verwendet werden. Natürlich können die Regierungen, die Vereinigten Staaten und andere, argumentieren, dass die Menschenrechte nicht extraterritorial gelten - was sie auch tun. Aber die Frage ist dann: Welcher rechtliche Rahmen gilt für ihre Handlungen? Und die Tötung einer Reihe dieser nichtstaatlichen Akteure findet außerhalb einer bewaffneten Konfliktsituation statt. Daher ist es schwierig, wenn nicht unmöglich, zu behaupten, dass das humanitäre Völkerrecht, das Kriegsrecht, gilt, weil diese Tötungen auf Gebieten stattfinden, die nicht in einen bewaffneten Konflikt verwickelt sind; sie sind in keiner Weise kriegführend.

Die dritte Option zu argumentieren ist, dass sie auf Grundlage der UN-Charta getötet werden: Diese verbietet extraterritoriale Gewaltanwendung, außer in Situationen der Selbstverteidigung, und dass wiederum die Rechtsprechung und die Standards rund um Artikel 51 der UN-Charta, der das Recht von Ländern auf Selbstverteidigung regelt, wirklich sehr strenge Auslegungen auferlegt dafür, was und wie Selbstverteidigung genannt werden kann; und wiederum muss die Bedrohung unmittelbar bevorstehen und es darf keine anderen Optionen geben, als sofort Gewalt anzuwenden.

In den meisten, wenn nicht in allen Fällen, haben die Länder, die tödliche Gewalt gegen nichtstaatliche Akteure eingesetzt haben, nicht erklären können, inwiefern diese nichtstaatlichen Akteure eine unmittelbare Bedrohung für ihre nationalen Interessen darstellten. Aus diesem Grund kommt die überwiegende Mehrheit der Rechtsmeinungen und auch die überwiegende Mehrheit der Länder bei den Vereinten Nationen zu dem Schluss, dass diese Tötungen unrechtmäßig sind. Aber das hat natürlich weder die Vereinigten Staaten noch Israel oder wer auch immer es sonst ist, davon abgehalten, solche Aktionen zu unternehmen.

Sie haben auch den Fall des iranischen Generals Qasem Suleimani im Irak und seines irakischen Kampfgefährten, Abu Mahdi Al-Muhandis, untersucht, die durch einen US-Drohnenangriff bei Bagdad getötet wurden. Dabei kamen Sie zu dem Schluss, dass die Tötung ungesetzlich war. Sind Sie immer noch dieser Meinung?

Ja, ich habe meine Meinung nicht geändert. Wie ich bereits erklärt habe, war die Tötung von General Suleimani nach den Menschenrechten rechtswidrig, weil er keine unmittelbare Bedrohung für einen Amerikaner darstellte: Er kam gerade aus einem Flugzeug und saß in einem Auto. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass er im Begriff war, amerikanische Leben anzugreifen. Ich glaube außerdem nicht, dass es zu diesem Zeitpunkt einen bewaffneten Konflikt zwischen dem Iran und den Vereinigten Staaten gab, und deshalb bin ich der Meinung, dass wir das humanitäre Völkerrecht nicht auf diesen speziellen Fall anwenden sollten.

Wenn wir das humanitäre Völkerrecht, das Recht des Krieges, anwenden, stellt sich die Frage, von welchem Krieg wir sprechen? Weil er im Irak getötet wurde, bedeutet das, dass sich die USA im Krieg mit dem Irak befanden. Und wenn wir zugestehen, dass die Tötung von General Suleimani nach dem Kriegsrecht rechtmäßig war, bedeutet das im Grunde, dass überall und jederzeit von jedem ein Krieg geführt werden kann. Das ist für mich eine sehr beängstigende Folgerung.

Ich habe die Behauptung zurückgewiesen, dass die Tötung von General Suleimani Teil einer bewaffneten Konfliktsituation war oder eine bewaffnete Konfliktsituation auslöste. Wenn es um Artikel 51 der UN-Charta und das Recht auf Selbstverteidigung geht, haben die USA keine Erklärung für die Tötung geliefert, die die Unmittelbarkeit der von General Suleimani ausgehenden Bedrohung belegt. Tatsächlich sprachen sie von Ereignissen, die in der Vergangenheit stattgefunden haben, sie sprachen nicht von Ereignissen, die im Begriff waren stattzufinden. Es klang vielmehr nach einem Vergeltungsmord als nach einem Selbstverteidigungsmord. Aus all diesen Gründen bin ich zu dem Schluss gekommen, dass die Tötung von General Suleimani ungesetzlich war.

Und hat Ihre Schlussfolgerung irgendwelche Konsequenzen im UN-System?

Nun, die Konsequenzen sind sehr begrenzt. Die Länder sind nicht bereit, die Vereinigten Staaten herauszufordern. Der einzige wirkliche Versuch, diese ungesetzlichen Tötungen anzusprechen, wird derzeit von der lateinamerikanischen Gruppe vorangetrieben. Diese ist der Meinung, dass solche gezielten Tötungen eine Verletzung des internationalen Rechts und der UN-Charta darstellen. Die lateinamerikanische Gruppe fordert, dass der Staat, der sich auf Selbstverteidigung beruft, um seine gezielten Tötungen zu rechtfertigen, tatsächlich beweisen muss, dass das Ziel seiner Tötung im Begriff war, einen Gewaltakt gegen das Land zu begehen. Und wie Sie wissen, ist das praktisch nie der Fall.

Diese Personen werden wegen der potenziellen Bedrohung, die sie darstellen, wegen ihrer vergangenen Aktivitäten, wegen ihres gegenwärtigen Engagements getötet, aber es gibt sehr selten, wenn überhaupt, Hinweise darauf, dass sie im Begriff sind, einen tödlichen Schlag gegen das Land zu führen. Sie werden also wirklich vorausschauend getötet, und wie Sie sich vorstellen können, ist das eine sehr gefährliche Entwicklung für Frieden und Sicherheit.

Sind Sie in Ihrer Arbeit auch mit dem Konflikt in Syrien befasst?

Beschäftigt habe ich mich mit der Situation der ausländischen Kämpfer und ihrer Familien in Nordsyrien, mit dem fehlenden Engagement der internationalen Gemeinschaft, Mechanismen einzurichten, um Daesh (Islamischer Staat) zur Rechenschaft zu ziehen. Da tut sich aber gar nichts. Alles läuft allein über militärische Mittel. Damit wird den Opfern von Daesh aber keine Gerechtigkeit zuteil - obwohl die Koalitionsregierungen darauf beharren, dass ihre militärischen Interventionen Gerechtigkeit bringen sollen. Das ist aber nicht der Fall: Es gibt keine Prozesse, es gibt keine Wahrheit, und die Interventionen selbst sind tödlich und verursachen Opfer unter der syrischen und irakischen Bevölkerung. Auch hier gab es keine Rechenschaftspflicht. Ich bin also unbeeindruckt von der Tatsache, dass es zehn Jahre nach Beginn des Krieges und der Interventionen der Koalition keine Vision für die Zeit nach dem Konflikt gibt, keine Vision für Gerechtigkeit und keine Vision für die Opfer.