nd-aktuell.de / 31.03.2021 / Kommentare / Seite 10

Meinungsfreiheit für wirklich alle

Nur ganz tapfere Männer können Kritik aushalten. Alle anderen jammern über Identitätspolitik

Sheila Mysorekar

Der »Welt am Sonntag«-Chefredakteur Johannes Boie behauptete kürzlich, Identitätspolitik bedrohe »unsere freie Gesellschaft.« Sie würde »Menschengruppen nach Merkmalen unterscheiden: Sexualität, Geschlecht, Hautfarbe und Ethnie, Herkunft.«

Nach dieser Logik waren früher - in einem Goldenen Zeitalter, das Welt-Redakteure offensichtlich noch erlebt haben - alle Menschen gleich. Da hatten alle die gleichen Rechte und Pflichten, und es hat nie, nie, nie jemand auf Hautfarbe oder Gender geachtet. Deswegen waren alle unsere Bundeskanzlerinnen schwarze Transpersonen. Und muslimische Frauen in den Dax-Vorständen.

Aber dann kamen irgendwelche Aktivist*innen, haben die Z-Soße umbenannt und freiheitsliebende Menschen gezwungen, sich die Zunge beim Gendersternchen zu verhaken. Und nun stehen wir vor einer gespaltenen Gesellschaft, wo wir nach Hautfarben und Religionen und sexueller Orientierung voneinander getrennt sind.

Okay, ich erkläre das jetzt gaaanz langsam und deutlich. Vielleicht ist Boie nicht das hellste Licht am Leuchter. Auch auf diese Menschen nehmen wir Rücksicht; so sind wir Identitätsaktivist*innen halt.

Erstens: Menschen wurden die ganze Zeit nach Geschlecht und Hautfarbe unterschieden. Nicht nach Blutgruppen oder Ohrenform. Der gesamte Kolonialismus beruhte auf dieser Unterscheidung. Ebenso die patriarchale Vorherrschaft der Männer. Oder wollen Sie ernsthaft behaupten, die koloniale Ausbeutung und jahrhundertelange Unterdrückung von Frauen beruhten einfach auf dem Leistungsprinzip? Weiße konnten halt zufällig besser den Sklavenhandel organisieren? Und Männer denken besser nach, deswegen hatten Frauen kein Wahlrecht? Jaja, Herr Chefredakteur. So isses.

Zweitens: Bei dieser Unterscheidung von Menschengruppen in besser und schlechter, klüger und dümmer, schneiden weiße, christliche, heterosexuelle Männer am Besten ab. Und warum? Weil dieses System nach ihren Regeln läuft.

Wenn eine männlich und weiß dominierte Mehrheitsgesellschaft Regeln aufstellt und damit auch die Sprache prägt, dann bestätigt sie damit ihre Identität, eben als männlich und weiß, also wo Frauen in der Sprache »mitgedacht« werden, und wo man Minderheiten wie Sinti*ze und Rom*nja bezeichnen kann, wie man will, auch mit negativen Namen.

Boie und andere behaupten, es ginge Minderheiten »nicht um Gleichberechtigung, sondern um Bevorzugung«. Tatsächlich? Also, wenn das System nach meinen Regeln laufen würde, dann wären atheistische indodeutsche Rheinländerinnen on top. In der Politik, in den Dax-Vorständen, und bei Germany’s Next Top Model sowieso. Hört sich bekloppt an, nicht wahr, Herr Chefredakteur?

Eben. Keine diskriminierte Minderheit in Deutschland fordert so etwas. Sondern Respekt, der sich zum Beispiel darin ausdrückt, Schimpfworte für ihre Gruppe nicht mehr zu gebrauchen. Aber schon das wird als eine Zumutung begriffen und absichtlich als Einschnitt in die Freiheit interpretiert.

Dieses »Missverständnis« ist ein höchst politischer Akt. Die Kritik seitens migrantischer Stimmen wird als freiheitsfeindlich - und damit demokratiefeindlich - umgedeutet. Dieses Framing hat prima funktioniert; allerorts hört man von Sprechverboten und dass man ja gar nichts mehr sagen dürfe.

All das nur, weil man aufgefordert wird, a) nachzudenken, bevor man redet, und b) Menschen nicht zu diskriminieren.

Die Freiheit, insbesondere die Meinungsfreiheit, wird überhaupt nicht angetastet. Wer will, kann nach wie vor Schimpfworte für Minderheiten benutzen - aber dann kriegt man Gegenwind. Genau das sind viele Leute nicht gewohnt, vor allem jene weißen Männer, die bisher den Diskurs dominiert haben. Meinungsfreiheit bedeutet für sie: »Ich kann sagen, was ich will, ohne dass mir widersprochen wird!«

Aber jetzt gibt es Widerspruch, gerade von Minderheiten. Wer dies als Kulturkampf bezeichnet, der will keine echte Meinungsfreiheit, sondern möchte diskriminierte Gruppen aus der politischen Debatte heraushalten. Doch diese Zeiten sind vorbei.