nd-aktuell.de / 03.04.2021 / Politik / Seite 30

Gegen Gehaltsunterschiede und Raubrittermentalität

Yonatan Miller weckt mit der Tech Workers Coalition bei Beschäftigten im Hochtechnologiesektor Interesse an politischem Engagement und Betriebsratsarbeit.

Tom Mustroph

Wie kam es zur Gründung der Berliner Sektion der Tech Workers Coalition?

Es begann am 10. Juni 2019. Zwei Leute aus der IT-Branche aus Massachusetts - einer von ihnen gehörte zur Bostoner Tech Workers Coalition - gaben in Berlin einen Workshop zum Thema Gewerkschaften in der IT-Branche. Zehn Tage später haben wir die Berliner Sektion gegründet.

Das war schnell und sicher auch nötig, oder?

Ja. Ich lebe jetzt mehr als fünf Jahre in Berlin. Okay, damals waren es erst vier Jahre. Ich habe in der Zeit bemerkt, dass die Arbeitsverhältnisse hier in der Regel zwar besser sind als in den USA, wo ich herkomme. Aber es gibt massive Probleme wie Sexismus am Arbeitsplatz und Intransparenz bei den Gehältern. Viele migrantische Arbeiter*innen kennen ihre Rechte gar nicht, können sie deshalb auch nicht einfordern. Aus diesem Grund brauchen wir ein Instrument, um solche Themen einzubringen und zu besprechen.

Ich will auch ganz klar sagen, dass es sich um keine Gewerkschaft handelt. Bei uns sind Mitglieder aus verschiedenen Gewerkschaftsorganisationen des DGB und der Gewerkschaft FAU. Ich selbst bin bei der IG Metall, denn ich arbeite in der Automobilindustrie.

Wie ist das Verhältnis zu den traditionellen Gewerkschaften?

Es ist prinzipiell gut. Die Gewerkschaften sehen die Notwendigkeit, dass in dieser Branche etwas geschehen muss. Die stärksten Verbindungen gibt es zu Verdi und zur IG Metall. Die Verbindungen zu den lokalen Büros hier in Berlin sind für die praktische Arbeit ganz wichtig. Im April wird eine neue Sektion der Tech Workers Coalition in München gegründet, mit Unterstützung der IG Metall.

Das wichtigste Anliegen der Tech Workers Coalition ist es, Betriebsräte in den Start-up-Unternehmen, aber auch in den größeren Unternehmen der IT-Industrie zu gründen?

Das wichtigste Ziel ist zunächst, die Beschäftigten in der Branche überhaupt zu politisieren und zwischen ihnen Verbindungen herzustellen. Dabei sind Betriebsräte ein ganz wichtiges Instrument. Deshalb haben wir verschiedene Workshops zum Thema Betriebsrat durchgeführt: Was sind Betriebsräte? Was können sie bewirken? Wie gründet man sie? Im Anschluss an diese Workshops gab es unter anderem eine Betriebsratsgründung bei N26 ...

… eine Berliner Onlinebank …

… und eines der zehn größten Start-ups in Berlin. Bei der Berliner Niederlassung des Online-Musikdienstes Soundcloud wurde am 4. Februar ein Betriebsrat gegründet. Und auch in kleineren Unternehmen wie etwa Cobot, die haben knapp 50 Mitarbeiter*innen, kam es zu Betriebsratsgründungen. Es ist das gesamte Spektrum vertreten.

Nun ist die Branche ja sehr heterogen. Es gibt Menschen mit festen Verträgen, oft sind das gut bezahlte Fachkräfte. Dann gibt es Leute mit befristeten Verträgen, die mal verlängert werden, mal auch nicht. Und dann noch die ganz prekären Clickworker, die für Tage oder manchmal nur Stunden angeheuert werden und komplett selbstständig sind. Wie können Sie all diese unterschiedlichen Aspekte und Realitäten unter einen Hut bringen?

Die Komplexität ist Teil des Problems. Denn wenn Menschen sich am Arbeitsplatz organisieren wollen, müssen sie sich ja zunächst mit etwas identifizieren, zu etwas zugehörig fühlen. Wenn jemand in einem Start-up für Lebensmittelauslieferung arbeitet, ist der dann Teil der Nahrungsgüterindustrie? Oder Teil der Logistikbranche? Er könnte sich auch als Plattformarbeiter sehen. Jemand, der bei N26 arbeitet, kann sich als IT-Mensch verstehen, aber genauso gut als jemand aus dem Finanzsektor. Und Amazon ist ohnehin ein Unternehmen, das nicht in einen einzigen Bereich passt. Es kann Logistik sein, Einzelhandel, Informationstechnik, Nahrungsmittel.

IT-Arbeiter*in oder Tech-Worker ist keine juristische Kategorie. Aber wir sammeln Erfahrungen. Menschen können zu uns kommen und sich über schon bestehende Kampagnen informieren oder Kontakte zu Personen in bestimmten Sektoren knüpfen. Wir versuchen, diese strukturellen Komplexitäten zu reduzieren.

Ein großes Thema in Berlin und Umland ist die neue Tesla-Fabrik. Gibt es dort Ihres Wissens nach schon Ansätze, einen Betriebsrat zu gründen?

Ich kommentiere generell keine Versuche, Betriebsräte zu gründen. Natürlich ist der Automobilsektor in Deutschland extrem wichtig, und die Gewerkschaftsbewegung dort ist auch sehr stark. Deshalb ist es sehr interessant, was mit Unternehmen wie Tesla geschieht, die aus den USA nach Deutschland kommen. Natürlich würden wir eine Betriebsratsgründung dort unterstützen. Aber es muss von den Arbeiter*innen ausgehen, es muss ihr Interesse sein, sich zu organisieren.

Wie sind generell Ihre Erfahrungen und die Ihrer Kolleg*innen bei der Gründung von Betriebsräten? Verhalten sich das Management und die Eigentümer*innen da eher feindselig - oder sehen sie in Betriebsräten auch ein Instrument, das Arbeitsklima im Unternehmen zu verbessern?

Das ist etwas, was wir stets betonen: Betriebsräte können das Klima verbessern. Bei Cobot zum Beispiel war das Management sehr glücklich über diese Idee und hat sie als eine völlig logische Entwicklung gesehen. Bei N26 dagegen war es anfangs sehr feindselig. Dort hat das Management versucht, mit rechtlichen Mitteln gegen die drei Leute vorzugehen, die zur Bestimmung eines Wahlkomitees aufgerufen hatten. Verdi klagte dagegen, die IG Metall rief dann zu den Wahlen auf. Danach hat N26 den Ton aber geändert. Sie sagten: Wir erkennen die Rechte des Betriebsrates an und werden gern mit ihm zusammenarbeiten.

Generell kann man sagen: Bevor es zu Betriebsratsgründungen kommt, gibt es viel Widerstand und Leute werden eingeschüchtert. Aber wenn der Betriebsrat dann da ist, weiß das Management auch, dass die gesetzliche Lage sehr klar ist. Und viele Arbeiter*innen sind überrascht, wenn sie feststellen, wie stark die Rechte eines Betriebsrates sind.

Es lohnt sich also, einen Betriebsrat zu gründen, gerade auch gegen den Widerstand der Bosse?

Natürlich!

Sie arbeiten selbst in der IT-Branche?

Ja, ich habe in New York City damit angefangen, erst als Social-Media-Trainer, später habe ich programmiert.

New York war lange Zeit für viele Berliner*innen das Traumziel schlechthin. Wieso sind Sie ausgerechnet den umgekehrten Weg gegangen - vom Big Apple in die Bulettenstadt?

Ich war auf viele Arten desillusioniert von New York. Und Berlin war für mich eine Art Paradies der IT-Arbeiter*innen, mit dem Chaos Computer Club, der ganzen Hackerszene hier. Aber je länger ich hier bin, desto mehr sehe ich auch die Probleme. Es gibt nicht die gute oder die schlechte Stadt. Wichtig ist, dass man ein Bewusstsein für Arbeitsbedingungen schafft. Das gilt in jedem Sektor und in jeder Stadt.

Was genau hat Sie desillusioniert in New York?

Ich bin damals in einem Tech-Meeting auf den Gründer von Handy.com gestoßen. Das ist eine Plattform zur Vermittlung von Reinigungsjobs in Privathaushalten. Was bei dem Treffen deutlich wurde, war, wie sehr es an Verantwortlichkeit des Unternehmens gegenüber den Mitarbeiter*innen fehlte. Bei Unfällen zum Beispiel kümmerte sich die Firma gar nicht. Beschäftigte, die zu viel Geld kosteten, wurde man einfach los, indem man ihren Account sperrte. Sie waren ja nicht einmal formal angestellt. Die IT-Szene jener Zeit in New York war von einer Raubrittermentalität geprägt.

Hat es Sie überrascht, dass dann ausgerechnet jemand aus den USA kommen musste, um in Berlin, das von einer Hackermentalität geprägt war, eine Solidarorganisation für Arbeiter*innen aus der IT-Branche zu gründen?

Eigentlich habe ich auch gewartet, dass da jemand kommt, der schlauer ist als ich und den Weg weist. Man kann die Situation auch damit erklären, dass Leute, die gut verdienen, ein Unternehmen, mit dem sie nicht zufrieden sind, einfach verlassen und woanders hingehen. Das ist menschlich verständlich. Hinzu kommt, dass du, wenn du aus einem Land kommst wie ich, in dem die Fünftagewoche und 20 Tage Urlaub im Jahr nicht selbstverständlich sind, diese Sachen einfach wertschätzt. Viele Kolleg*innen aus Osteuropa scheuen auch davor zurück, zu viel zu verlangen.

Wie sehr ist die klassische Start-up-Ideologie ein Hindernis? Die suggeriert ja, dass alle Kumpels sind, dass es flache Hierarchien gibt, dass man Spaß miteinander hat und für eine gute Sache arbeitet.

Es ist eine Folge dieser Ideologie, dass es so wenig Interesse an Betriebsräten gibt. Es stellt sich ja immer stärker heraus, dass diese ganze Idee - wir sind eine Familie, wir sorgen uns umeinander - eine Illusion ist.

Was sind gegenwärtig die wichtigsten Themenfelder?

Ein ganz großes Problem ist die Geschlechterungerechtigkeit und der erwähnte Sexismus am Arbeitsplatz. Das ist hier sehr auffällig. In Europa rangiert Deutschland an drittletzter Stelle, wenn es um Einkommensgerechtigkeit zwischen Männern und Frauen geht. Frauen arbeiten auch kürzere Zeit in dieser Branche, steigen früher aus.

Ein weiteres Problem ist die Intransparenz bei den Gehältern. Meine Erfahrung bei fünf verschiedenen Arbeitgebern in Berlin war, dass es keiner nachvollziehbaren Logik folgte, wann ich mal mehr und wann weniger verdiente.

Diese Art von Willkür führte einige Soziologen schon zu dem Gedanken, dass die heutige Informationsgesellschaft Züge einer Feudalgesellschaft trägt - mit einer Klasse von Reichen, die sich im Besitz uneingeschränkter Macht wähnt, und einer großen Menge von abhängigen Untertanen. Sehen Sie dies ähnlich?

Ich denke, wir nehmen alle daran teil, wenn wir eine App herunterladen. Und selbst wenn wir nicht über Amazon bestellen, so hat man sich doch an die Vorstellung gewöhnt, dass eine Ware nach 24 oder spätestens 48 Stunden geliefert wird. Das ist ein sozialer Wandel.

Ein neues Phänomen ist auch, dass die Arbeit in immer kleinere Einheiten aufgeteilt wird, dass Arbeitnehmer*innen gar nicht mehr den Überblick haben, an welchen Projekten sie beteiligt sind. Google-Beschäftigte wussten zum Beispiel gar nicht, dass das »Project Maven«, an dem sie mitarbeiteten, ein militärisches Projekt war.

Nach Protesten von Google-Angestellten stieg das Unternehmen dann aus »Maven« aus. Wäre ein tieferer Einblick in die Strukturen des Unternehmens und damit die Fähigkeit, auf die Einhaltung ethischer Standards zu achten, nicht auch eine Aufgabe für Betriebsräte?

Ja, es braucht einen Überblick für die Arbeitnehmer*innen. Und es braucht natürlich auch Kontrolle von außen.

Wie wird in der Szene die Problematik China diskutiert, also das Risiko, an Projekten mitzuarbeiten, die dort zu Überwachung und Repression eingesetzt werden?

Ich glaube, man sollte zunächst den Fehler vermeiden, alles, was dort geschieht, mit der Regierung gleichzusetzen. Natürlich sind die großen Gewerkschaften vom Staat gesteuert. Aber es gibt auch kleinere Initiativen, die unabhängig sind und wichtige Arbeit leisten. Chinesische Tech-Worker starteten die Initiative 996.ICU. Sie bezog sich auf die Arbeitszeit von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends, sechs Tage die Woche, und den Fakt, dass viele deshalb derart erschöpft waren, dass sie auf der Intensivstation landeten. Mitarbeiter von Microsoft solidarisierten sich mit der Initiative.

Haben Sie eigentlich eine Lieblingsprogrammiersprache?

Ja, Ruby. Sie wurde vor 27 Jahren entwickelt.

Sie ist also genauso alt wie Sie selbst?

Ja, stimmt. Ruby ist eine Programmiersprache für E-Commerce, die Shopify-Webseite wurde mit Ruby programmiert und auch Twitter, als es begann. Vor allem aber sind die Gemeinschaften in Ruby sehr angenehm. Bevor ich die Tech Workers Coalition startete, stellte ich die Idee auch auf ein paar Ruby-Meetings vor. Ruby wird auch wenig an Unis gelehrt, man lernt es eher in der Gemeinschaft, wird von jemandem darauf gebracht und lernt dann einfach weiter.