Bratzeln am Laptop

Plattenbau

  • Benjamin Moldenhauer
  • Lesedauer: 3 Min.

Das Regenorchester spielt nur äußerst selten, und wenn, dann ohne vorher groß zu proben. 2006 und 2013 wurden noch Kompositionen des Trompeters und Orchestergründers Franz Hautzinger aufgeführt. Sechs Jahre später, bei dem Konzert der zwölften Ausgabe des Regenorchesters (Regenorchester XII), gab es keine Vorabsprachen oder Partituren mehr. Das Ergebnis ist ein Quell der Freude. Christian Fennesz und Otomo Yoshihide bratzeln am Laptop und am Plattenspieler interessante Frequenzen und Geräusche zusammen und spielen Gitarrengeschubber dazu. Die Basis bilden der The-Ex-Gitarrist Luc Ex am Bass und Tony Buck, Schlagzeuger von The Necks. Hautzinger hält sich über weite Strecken zurück, schaut sich das Treiben seiner Leute wohlwollend an und legt mit der Trompete fragmentarische Jazz-Loops über den Sud.

Bei frei improvisierter Musik, die nicht primär auf die Expressivität der Musiker*innen setzt, sondern Spontankompositionen im Sinn hat, entsteht auch mal vorübergehend Leerlauf. Im schlimmsten Fall scheint dann eine oft vom Noise verdeckte Ideenlosigkeit durch. Im schönsten Fall entsteht, so wie hier, der Eindruck eines gemeinsamen Luftholens. Und wenn alle sich gesammelt haben, läuft die Musik wieder auf einen Punkt zu, von dem noch niemand der Beteiligten etwas weiß. Am schlüssigsten ist die Musik, die das Regenorchester 2019 während des auf »Relics« dokumentierten Auftritts auf dem Klangspuren-Festival live entwickelt hat, wenn die Musiker Rock-Dynamiken aufnehmen und wieder zerschreddern. In diesem Sinne lassen sich Stücke wie »Arbre« oder »Dogman« auch als Jazzrock verstehen. Hypernervöser, zerstückelter Jazzrock allerdings, der sozusagen den Berg runterrollt und auf dem Weg alles an Glattheit und Finesse verliert. Übrig bleibt die Basis - Spielfreude und Freude am Sound.

Auf einer ähnlichen Baustelle arbeitet Christof Kurzmann. Mit Fennesz und Tony Buck hat der Wiener Saxofonist häufig zusammengespielt, und die Idee, freie Improvisation und Komposition in ein interessantes Verhältnis zu setzen, scheint auch hier strukturbildend. »Disquiet« wurde 2018 auf dem Konfrontationen-Festival in Nickelsdorf aufgeführt. Kurzmann an der Störgeräusche produzierenden Loop-Maschine, Joe Williamson am Bass und Martin Brandlmayer am Schlagzeug fabrizieren ein nervöses Geklacker und Gestolper, das sich immer wieder zu Patterns zusammenfügt und in Ambient-Passagen wieder auseinandergeht. Dazu singt Sofia Sternberg Töne.

Dass die Unruhe, die der Titel des 47-minütigen Stücks verspricht und die die Musik dann auch formvollendet realisiert, als politisch aufgeladen verstanden werden soll, stellt »Disquiet« gleich am Anfang klar, mit einem Sample aus einer Rede von Guy Verhofstadt, der die »Flüchtlingskrise« in Hinblick auf die Entwicklung in Ungarn als eine politische Krise definierte.

Kurzmann singt immer wieder mit leicht sonorer, fragiler Stimme und verleiht dem Kratzen und Schaben damit einen seltsam-schrägen Pop-Appeal. Insofern setzt sich »Disquiet« zu Indiepop in ein ähnliches Verhältnis wie das Regenorchester mit »Relics« zu Jazzrock: Etwas wird aufgelöst und bleibt in Spuren doch erhalten. Als zwei geglückte Versuche, eine unakademische und - ein offenes Ohr vorausgesetzt - unmittelbar zugängliche improvisierte Musik zu entwickeln, sind beide Alben sehr zu empfehlen.

»Regenorchester XII« (Trost Records);

Christof Kurzmann »Disquiet« (Trost Records)

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