Gewollte Lücken im Bücherregal

Eine Ausstellung zeigt, wie Sachsens Landes- und Universitätsbibliothek nach NS-Raubgut forscht

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein Mann, der versunken in einem Buch liest, während er eine Treppe steigt: So sah das Signet der Arbeiterbibliothek Rathenow aus, die 1899 in der Stadt im heutigen Brandenburg von Gewerkschaftern gegründet worden war und bis zu 6000 Bände umfasste. Sie alle trugen den Stempel mit dem lesenden Arbeiter - ein Stempel, der Mitarbeiter der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek (SLUB) stutzen ließ, als sie ihn in einem kunstgeschichtlichen Band entdeckten. Sie durchforsteten die Dresdner Sammlung nach potenziellem NS-Raubgut. Stempel wie jener der Arbeiterbibliothek seien, sagt Jana Kocourek, »Besitzspuren«, die Verdacht erregten. Er koordiniert in der SLUB Projekte zur sogenannten Provenienzforschung. Diese gehen der Frage nach, wie Bücher in den Besitz der Bibliothek kamen. Vor allem sollen solche Werke, Drucke oder Handschriften identifiziert werden, die in der NS-Diktatur politischen Gegnern oder anderweitig Verfolgten entzogen wurden. Sie sollen früheren Eigentümern oder deren Nachkommen zurückgegeben werden. Das sieht die »Washingtoner Erklärung« von 1998 vor, der auch die Bundesrepublik beitrat.

Der Vorsatz ist aller Ehren wert, ihn umzusetzen freilich eine Sisyphosarbeit. Das illustriert eine virtuelle Ausstellung, die Bilanz nach zehn Jahren Provenienzforschung an der SLUB zieht und im Internet in der »Deutschen Digitalen Bibliothek« zu sehen ist. Die Art der Präsentation ist dabei nicht der Pandemie geschuldet, sondern dem Anliegen der Provenienzforscher. »Unser Ziel ist es, die betreffenden Bücher zurückzugeben«, sagt Nadine Kulbe, eine der Dresdner Wissenschaftlerinnen: »Wir hätten sie nicht mehr zeigen können und eine Ausstellung mit Lücken gehabt.«

An Lücken herrscht in der Arbeit der Forscher kein Mangel, worauf der Titel der Ausstellung anspielt: »Mind the Gap«, also etwa: Achten sie auf die Lücke! Die legendäre Durchsage in der Londoner U-Bahn dürfte die Forscher wie eine Grundmelodie begleiten. Sie müssten große Wissenslücken stopfen, sähen sich mit bruchstückhaften Informationen konfrontiert, litten unter Finanzlücken und sorgten, wenn sie erfolgreich seien, auch für Lücken im Bücherregal, sagt Kulbe.

Die von Judith Andó gestaltete Ausstellung ist ein Werkstattbericht und konzentriert sich auf jene Lücken, die Kulbe & Co. mit ihrer detektivischen Arbeit zu schließen suchen. Sie klären dabei, wie Bücher in die SLUB kamen, wer frühere Eigentümer waren und wie der Besitzerwechsel stattfand. Exemplarisch illustriert wird das an drei Büchern, die - wie im Ergebnis der Recherchen klar wurde - der Rathenower Arbeiterbibliothek sowie der Schriftstellerin Ilse Weber und dem Württembergischen Freidenker- und Monistenbund gehört hatten.

Erste Anhaltspunkte waren stets Stempel, Exlibris oder Namen, die Spuren zu Vorbesitzern darstellten. Von diesen Herkunftsmerkmalen wurden allein in den vergangenen vier Jahren rund 1200 untersucht, sagt Kocourek. Es folgten Recherchen in Archiven, Datenbanken und Literatur. Im Fall Rathenow gab eine Publikation von 1980 über Arbeiterbibliotheken im späteren Bezirk Potsdam wichtige Hinweise, führte aber auch auf falsche Fährten: Sie ging davon aus, dass der Bücherbestand in einem Heizungskeller endete, nachdem der Bibliothek zunächst im April 1933 vom Stadtrat Rathenow die Räume gekündigt und im Mai 1933 die Gewerkschaften und alle ihre Organisationen vom NS-Regime generell verboten worden waren.

Tatsächlich landeten diese wie viele weitere Bücher und Kulturgüter aber in dem, was die Forscherin Elisabeth Geldmacher eine »Verwertungsmaschinerie« des NS-Systems nennt. Das zeigt auch das Buch aus dem Besitz von Ilse Weber. Die in der Tschechoslowakei lebende Jüdin wurde im KZ Theresienstadt interniert und später in Auschwitz ermordet; ihre Bibliothek landete in einer »Treuhandstätte« in Prag, von wo die Bücher weiterverteilt wurden - auch in Bibliotheken. Jene aus dem Eigentum der Gewerkschaften gingen an die NS-Arbeitsfront über. Nach Ende des NS-Systems wurden sie für den neuen Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) sichergestellt, der eine wissenschaftliche Bibliothek aufbauen wollte. Er wird durch einen Stempel als weiterer Eigentümer ausgewiesen. Erst 1967 kam das Buch - eine Beschreibung der Innenräume in der russischen Zarenresidenz Zarskoje Selo - schließlich in die Dresdner SLUB.

Bis die Fakten als gesichert gelten durften, war »langwierige und Geduld erfordernde Arbeit« nötig. sagt Kulbe. Aus eigenen Kräften können Bibliotheken das mangels Geld und Personal nicht bewältigen, betont Kocourek. Die Recherchen an der SLUB fanden im Rahmen zweier Projekte von 2011 bis 2013 sowie 2017 bis 2021 statt; ein drittes und wohl letztes schließt sich jetzt an. Derlei Vorhaben werden oft vom »Deutschen Zentrum Kulturgutverluste« gefördert, das Bund, Länder und Kommunen eingerichtet haben. Allerdings sei im Rahmen befristeter Projekte die erforderliche »Sicherung der Expertise« ebenso wenig zu leisten wie die gründliche Dokumentation der Ergebnisse, sagt Kocourek. Sie drängt die öffentliche Hand, sich »deutlich stärker« um Verstetigung der Mittel zu bemühen.

In der SLUB sind im Ergebnis der Forschungen viele gewollte Lücken auf Regalen entstanden. Über 500 Bücher aus jüdischem Besitz sowie von Gewerkschaften oder Religionsgemeinschaften wurden restituiert oder warten darauf.

Das Buch von Ilse Weber konnte ihrem Sohn übergeben werden, der die NS-Diktatur überlebte. Das Buch aus der Rathenower Arbeiterbibliothek indes bleibt mangels Nachfolger in Dresden - versehen mit dem Vermerk »NS-Raubgut«.

www.ausstellungen.deutsche-digitale-bibliothek.de/mind-the-gap

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