nd-aktuell.de / 27.04.2021 / Politik / Seite 2

Der Anfang einer langen Abwärtsspirale

Afghanistans jüngste Geschichte lässt sich auf den Wendepunkt des kommunistisch inspirierten Putsches vom 27. April 1978 zurückführen

Emran Feroz, Kabul

Am 27. April jährt sich der kommunistische Putsch in Afghanistan zum 43. Mal. Die sogenannte Saur-Revolution, benannt nach dem gleichnamigen afghanischen Monat, war für viele Afghanen ein historischer und brutaler Wendepunkt. Der blutige Putsch beeinflusst das Geschehen am Hindukusch bis heute, denn seitdem hat die Gewalt im Land kein Ende genommen. Die Kommunisten, genauer gesagt die Demokratische Volkspartei Afghanistans (DVPA), töteten den damaligen Präsidenten, den autoritären Mohammad Daoud Khan, mitsamt seiner Familie, brachten sich an die Macht und errichteten eine Schreckensherrschaft.

Der damalige Führer der DVPA, Nur Mohammad Taraki, ernannte sich zum Staatsoberhaupt und ließ jeden jagen und foltern, der sich gegen die »Revolution« stellte, darunter auch seine Parteifreunde. Viele wurden ermordet. Bereits zum damaligen Zeitpunkt war die Partei praktisch geteilt in den Khalq-Flügel Tarakis (Khalq=Volk, Massen), hauptsächlich bestehend aus Paschtunen der ländlichen Regionen, und den Parcham-Flügel (Parcham=Flagge) Babrak Karmals, dominiert von urbanen Klassen verschiedener Ethnien. Die DVPA bezeichnete sich als links, sozialistisch oder marxistisch, doch ihre Opfer waren in erster Linie Menschen, die von linker Politik profitieren sollten: Arbeiter, Bauern, Studenten.

Der »große Lehrer«

Um Taraki selbst entstand ein kruder Kult. Seine Anhänger nannten ihn den »großen Lehrer«, während selbst dem Politbüro der KPdSU in Moskau auffiel, dass ihr ideologischer Partner in Kabul, einst ein erfolgloser Journalist, ein Extremist ist. Taraki verbreitete den sogenannten Roten Terror und vertrat die Auffassung, dass jeder, der sich gegen die Revolution stelle, liquidiert werden müsse. Dies machte selbst den damaligen sowjetischen Botschafter in Kabul, Alexander Puzanov, nach einem Gespräch mit Taraki sprachlos. In den darauffolgenden Monaten wütete Taraki: Er ließ willkürlich Ärzte, Lehrer, Ingenieure und andere Zivilisten foltern und hinrichten. Die rund 300 000 Mullahs betrachtete der »große Lehrer« als Hindernis für den »modernen Fortschritt«. Viele Geistliche verschwanden in den Folterkellern des Geheimdienstes. Tarakis Schreckensherrschaft wurde von dessen Lehrling, Hafizullah Amin, im Oktober 1979 übernommen, nachdem dieser Taraki hatte ermorden lassen.

Allerdings verabschiedete die Khalq-Regierung auch eine Reihe fortschrittlicher Gesetze wie das Verbot der Kinderheirat, förderte die Alphabetisierung und verordnete eine Landreform. Die Umsetzung kam jedoch nicht voran und stieß auf Widerstand. Letztlich waren die Reformen zu radikal und trugen den spezifischen Verhältnissen der afghanischen Gesellschaft keine Rechnung.

Mitrochin-Akten

Besonders detailliert beschreibt die Umtriebe der afghanischen DVPA-Führung Wassili Mitrochin, ein ehemaliger KGB-Archivar. Die von ihm veröffentlichten Akten machten deutlich, dass führende Funktionäre bereits in den Jahren unter Daoud Khan als Agenten Moskaus tätig gewesen sind. Auch die Gründung der DVPA im Jahr 1965 wurde von Moskau unterstützt. Einige Protagonisten trugen zum damaligen Zeitpunkt Decknamen. Dies galt unter anderem für Taraki, aber auch für Mohammad Nadschibullah, den letzten kommunistischen Präsidenten Afghanistans, der in den frühen 1980er Jahren als Chef des berüchtigten Geheimdienstes KhAD unzählige Menschen verschleppen, foltern und töten ließ. Laut Mitrochins Akten und zahlreichen Augenzeugenberichten beteiligte sich Nadschibullah selbst an Folterprozeduren.

Währenddessen ist die Rolle Amins bis heute in Teilen nicht geklärt. Im Gegensatz zu seinen Parteikollegen hatte dieser nämlich keine eindeutige kommunistische Vergangenheit oder Verbindungen nach Moskau. Stattdessen führten Amins Spuren in die Vereinigten Staaten, wo er einige Zeit gelebt und an der Columbia University studiert hat. Ausgerechnet im Herz des Kapitalismus wurde Amin zu dem, was er selbst als radikalen Marxisten bezeichnete. In Afghanistan war er als Pädagoge und Dozent tätig. Er bildete an bekannten Institutionen angehende Lehrer aus und indoktrinierte dieser mit seiner »revolutionären Ideologie«, bevor er sie zurück in ihre Dörfer schickte. Zeitgleich nahmen damals in Kabul die politischen Auseinandersetzungen zu. Die politische Landschaft wurde nicht nur von den Linken dominiert, sondern auch von islamistischen Akteuren. Die Kabuler Universität wurde zum Austragungsort verschiedener ideologischer Kräfte.

Als Amin an die Macht kam, wütete er derart in Kabul, dass das Politbüro der KPdSU ihn loswerden wollte und das Gerücht verbreitete, er sei ein amerikanischer Spion. Da Amin daraufhin allerdings weiterhin morden und foltern ließ und mit seinen Handlungen eine sowjetische Intervention regelrecht provozierte, begannen einige Entscheidungsträger in Moskau zu glauben, dass ihr verbreitetes Gerücht womöglich sogar der Wahrheit entspreche und die CIA ihre Finger im Spiel habe. Vollkommen geklärt ist dieser Umstand bis heute nicht. Einigen Quellen zufolge besuchte Amin Mitte der 1960er Jahre ein einziges Mal Moskau. Es war ein Transitaufenthalt, der ihn anscheinend zusätzlich radikalisierte.

Amins Herrschaft fand ein Ende, als zu Weihnachten 1979 die Sowjetunion in Afghanistan militärisch intervenierte. Zuvor hatte die afghanische Regierung die Sowjetunion im Laufe des Jahres 1979 gleich 13 Mal vergeblich zum militärischen Eingreifen aufgefordert. Die Ermordung Tarakis gab wohl den Ausschlag zu handeln. Amin wurde von einer Spezialeinheit getötet und durch den kontrollierbaren Babrak Karmal ersetzt, der Kabul zuvor wegen innerparteilicher Auseinandersetzungen verlassen hatte. An der Politik des Regimes änderte dies jedoch nur wenig. Hunderttausende Menschen waren gezwungen, das Land zu verlassen. Zum damaligen Zeitpunkt waren bereits weite Teile der gebildeten Schicht vertrieben oder ermordet. Dies hat unter anderem dazu geführt, dass zahlreiche Afghanen sich im Kampf gegen die Sowjetarmee und gegen das Kabuler Regime reaktionären, islamistischen Kräften anschlossen.

Massenmorde und Massenfolter

Zum gleichen Zeitpunkt wurde bekannt, dass die Mehrzahl der Kriegstoten Opfer der sowjetischen Truppen waren. Laut einem UN-Bericht von 1986 wurden allein zwischen Januar und September 1985 mindestens 33 000 afghanische Zivilisten getötet, hauptsächlich durch die sowjetische Armee und deren Verbündete. Der Bericht hebt hervor, dass durch aufständische Gruppierungen im selben Zeitraum mehrere hundert Zivilisten getötet wurden, dass dies allerdings nicht vergleichbar sei mit den Opferzahlen, die auf das Konto der Gegenseite gingen. Der UN-Bericht stellte auch fest, dass die Kabuler Regierung und ihre Unterstützer in Moskau gezielten Massenmord und Massenfolter von Zivilisten anwendeten.

Am Ende der sowjetischen Besatzung waren - je nach Quelle - bis zu zwei Millionen Afghanen tot, Millionen weiterer wurden zu Geflüchteten gemacht. Viele junge Menschen schlossen sich militanten Gruppierungen an - nicht etwa, weil das die CIA so befohlen hatte, sondern weil sie Familienmitglieder bei Massakern oder in den Folterkellen verloren hatten.