nd-aktuell.de / 12.05.2021 / Kultur / Seite 7

Dieses Kunststück Leben

Eine Nähe herstellen und aushalten: Gisela Steineckert wird 90

Irmtraud Gutschke
Im Ich ist ein Du: Gisela Steineckert
Im Ich ist ein Du: Gisela Steineckert

Was für eine großartige Geburtstagsfeier hat es vor fünf Jahren gegeben. Auf der Bühne – »ausverkauft« – das war ihr das schönste Geschenk. Im Kino »Capitol« in Königs Wusterhausen war Gisela Steineckert zusammen mit Dirk Michaelis aufgetreten. Und hinterher gab es eine Versteigerung von Pflaumenkuchen – zugunsten eines Kindergartens. Dieses Jahr nun kann nur im kleinen Kreis gefeiert werden. Und die Jubilarin wird es sich nicht anmerken lassen, wie die Zahl 90 ihr, wider Willen doch, als Zäsur erscheint. Aber ist es nicht auch mit 80 so gewesen?

Das Leben festhalten. Indem man sich mit lieben Menschen umgibt und indem man nicht aufhört, tätig zu sein. Beides kann in Widerspruch geraten. Schöpferische Arbeit braucht Ruhe, ja Abgeschiedenheit. Dass dies eine Balanceübung ist, wie überhaupt so vieles, womit ein Mensch zu tun hat. Gisela Steineckert ist das bewusst. Rund 4000 Liedtexte, über 40 Bücher, zu DDR-Zeiten noch zehn Filmszenarien und fünf Hörspiele hat sie verfasst – und sich bei dieser Arbeit so wunderbar lebendig gefühlt, dass die Resonanz darauf ein zusätzliches Geschenk gewesen ist. Will man etwas benennen, das dieses riesige, noch längst nicht abgeschlossene Werk zusammenhält, so ist es wohl dieses Kunststück Leben, das sie indes nicht als etwas Abgehobenes versteht, schon gar nicht als Flucht aus den Wirren des Alltags. Im Gegenteil: Gisela Steineckerts Kunst lebt vom Bezug aufs Alltägliche. Auf bewundernswürdige Weise kann sie erspüren, wie es anderen Menschen ergeht, weil sie in sich selbst hineinlauschen kann, sich in der Tiefe kennt. In den meisten ihrer Bücher – auch in »Langsame Entfernung«, ihrem jüngsten – ist sie in Erinnerungen getaucht, indes so, dass aus dem Persönlichen Allgemeines erwächst.

Vom Einst kommt sie ins Heute, vom Einzelnen aufs Grundsätzliche, was das Leben betrifft: die Güte und Geduld, die wir einander schenken sollten, die vielen persönlichen Bedrückungen, die es dennoch gibt, und die »Vorstellung von einer Zukunft, in der Menschen mit weniger Angst, Gewalt und Unterdrückung leben könnten«. Weil wir uns so individuell fühlen, begreifen wir ja oft gar nicht, wie wir untereinander verbunden sind in unseren Wünschen und Sehnsüchten, Ängsten und Traurigkeiten.

Dieses Ureigene und zugleich Verbindende ist der Stoff, aus dem Gisela Steineckert ihre Lyrik und Prosa und nicht zuletzt ihre Lieder schöpft. Wie da in ihrem künstlerischen Ich zugleich ein Du ist, das ist der Grund für die Liebe, die sie immer wieder bei einem großen Publikum erfährt.

Sie schreibt ihre Texte doch in Erwartung, dass sie nicht nur im persönlichen Zwiegespräch wirken, wie es beim Lesen eines Buches geschieht. So bewahren ihre Texte immer auch etwas Mündliches. Sie wollen vorgetragen sein, eine Resonanz finden, die auf die Autorin zurückwirkt. Ich bewundere, wie es ihr gelingt, diese Nähe herzustellen und aushalten. Wie sie nicht unter Applaus einen Saal betritt, sondern schon auf dem Podium sitzt, bevor eine Veranstaltung beginnt. Jede und jeden einzelnen sucht sie mit ihren Blicken zu erfassen. Beim Lesen gibt es kein kühles »Sie«, sondern ein »Ihr«, ein »Du«. Unnachahmlich ist, was dann beim Signieren geschieht. Lange stehen die Leute an, in Erwartung, ihr etwas von ihrem Leben zu erzählen. Da mitfühlend zu fragen, zuzuhören, die richtigen Worte zu finden, das muss man erst einmal können. Ob es wohl noch andere Autorinnen und Autoren gibt, die ihre Telefonnummer an Fremde weitergeben: »Ruf mich an, da reden wir …«

Am 13. Mai wird bei ihr den ganzen Tag das Telefon klingeln. Wie viele enge Freunde und Bekannte hat sie, die ihr gratulieren wollen, wie viele Sängerinnen und Sänger, denen sie ihre Lieder schenkte, könnten ihr ein Ständchen bringen. Jürgen Walter, Dirk Michaelis, Uschi Brüning, Veronika Fischer, Frank Schöbel, Angelika Neutschel – die Aufzählung würde lang. Tatsächlich, sie verkauft ihre Lieder nicht, verlangt niemals Geld dafür. Und sie überlegt genau, was zu der Sängerin, dem Sänger passt. Ihr großes Publikum im Osten wächst ihr auch deshalb zu, weil sie nach dem Ende der DDR so blieb, wie sie war: nachdenklich, kritisch, aufmüpfig, eins mit sich und ihrer Biografie. Dabei zieht sie sich nicht in ihr Ich zurück. Was in der Welt geschieht, es wühlt sie auf. Wenn sie da, gerade jetzt, ein Gefühl der Mutlosigkeit in sich entdeckt, weiß sie, dass es andere teilen – und dass sie dagegen ankämpfen muss.

Lesen Sie weiter über Gisela Steineckerts Buch »Langsame Entfernung«[1]

Im Moment arbeitet sie mit Arnold »Murmel« Fritzsch an einer CD, überlegt, einen weiteren Band mit Briefen zu veröffentlichen. Langeweile gibt’s nicht. Doch so schön es in der Familie mit Tochter Kirsten, Enkelin Laura und Urenkelin Leni-Marie ist, hätte ich ihr doch so ein rauschenden Geburtstagsfest gewünscht. Bei dem sie ihre Lieder hört, und dazu einen Kalender voller Termine, wie es vor Corona war, viele Reisen durchs Land, in voll besetzte Säle, wo das Glück Zuhause ist. Halten wir uns an der Erwartung fest, lassen wir uns nicht unterkriegen.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1148431.kuenstlerinnen-in-der-pandemie-alles-soll-mich-erinnern.html