nd-aktuell.de / 14.05.2021 / Kultur / Seite 13

»Na, wie war ich?«

Eine Erinnerung an den Schriftsteller Michael Rudolf und an seinen Helden Holger Sudau

Marit Hofmann

Diesen Freitag wäre der Schriftsteller Michael Rudolf 60 Jahre alt geworden. Doch am 2. Februar 2007 verschwand er. Unsere Autorin korrespondierte mit ihm bis zum letzten Tag. Und auch mit Holger Sudau, den Michael Rudolf zur Hauptfigur seines Romans »Morgenbillich« gemacht hatte.

Er muss da draußen irgendwo sein. Ganz sicher. Sie wissen nicht zufällig, wo Holger Sudau steckt? Sagen Sie jetzt nicht, das sei doch bloß ein Alter Ego des Schriftstellers Michael Rudolf gewesen und dessen Roman »Morgenbillich« von 2003, der Sudaus Lebensgeschichte minutiös nachzeichnet, in Wirklichkeit »autobiografisch« - ich kann es nicht mehr hören! Schließlich lebte und wirkte der am Ende der Biografie »irrtümlich Verschwundene« nicht nur in zahlreichen von Rudolf veröffentlichten Geschichten fort, Herr Sudau schrieb und publizierte auch eigenständig Texte, über die sich sein vermeintlicher Schöpfer Rudolf nicht selten abfällig zu äußern pflegte.

Nicht zuletzt habe ich, Rudolfs langjährige Redakteurin bei »Konkret«, das angebliche Alter Ego kennenlernen dürfen - und kann bezeugen: Die beiden Herren waren grundverschieden. Während Rudolf die Gemeinheiten des Daseins nicht eben leicht wegzustecken vermochte, war Sudau alles andere als ein Kind von Traurigkeit und sprach ausschließlich den angenehmen Dingen des Lebens zu. Sobald es Arbeit gab, war er schlagartig spurlos verschwunden, und Probleme meisterte er mit links respektive einer gepfefferten Linken. Michael Rudolf und ich mochten es nicht zugeben, aber insgeheim bewunderten wir diesen ungehobelten Kerl.

Als Herr Rudolf eines schönen Tages des Jahres 2006 widerwillig Sudaus Mailadresse rausrückte, trat ich endlich direkt mit dem Phantom in Kontakt: »Schön, dass wir uns jetzt endlich unter vier Augen verständigen können.« »Sudau, die Sau« (M. Rudolf), war nämlich um einiges gesprächiger, und immer wenn Michael eine schlechte Phase hatte, horchte ich Holger aus und ließ mir nahezu täglich rapportieren: »Sudau, kümmern Sie sich mal um Herrn Rudolf. Er flunkert kaum und liest jetzt auch noch Bolz und Stifter. Aber wie soll ich von hier aus eine Diagnose stellen, wenn er, Sie kennen ihn ja, kaum mit der Sprache rausrückt? Also, Sudau, ich brauche Fakten: Ess-, Trink- und Schlafgewohnheiten, Vereinsmitgliedschaften; wen trifft er, wovon träumt er, pflegt er Verbindungen zum Untergrund? Reden Sie mal mit den Nachbarn. Ach ja, und Sudau, öffnen Sie um Himmels willen nicht wieder seine Post. Oder lassen Sie sich wenigstens nicht dabei erwischen.«

So verschieden die beiden waren, müssen Sie nämlich wissen, so groß waren doch ihre Gemeinsamkeiten: Bekam Herr Rudolf etwa eine Lieferung seiner Lieblingspilze, konnte man sicher sein, dass Herr Sudau das Päckchen »rein interessehalber« öffnete - mit folgenden Folgen: »Auf der Stelle verlangte Rudolf seinen ›Anteil‹ davon, tja, was soll ich sagen: An eine Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen ist augenblicklich nicht zu denken. Nur so viel: Er lebt!«

Ich hatte alle Hände voll zu tun, die Streithähne zu beruhigen, und appellierte an ihr Gewissen - bei Sudau allerdings ein hoffnungsloser Fall, denn, so mein Befund, »offensichtlich klafft da, wo andere ein Unrechtsbewusstsein haben, bei Ihnen ein (womöglich inzwischen mit fremder Leute Totentrompeten gefülltes) riesiges Loch. Mensch, Holger, Gewalt ist doch keine Lösung.« An den petzenden Herrn Rudolf (»Dieser Mann ist allgemeingefährlich«) ging der Bescheid: »So, ich habe Herrn Sudau die Leviten gelesen. Etwas mehr Nach- und Einsicht stände Ihnen allerdings ebenfalls gut zu Gesicht, spielen Sie mal nicht die Unschuld vom Vogtlande.«

Wenn Herr Rudolf nämlich etwa mit seinen beiden geliebten Damen, einer aparten Doktorin und einer reizenden Fantasyromanautorin, eine Vergnügungsreise antrat, durfte sein Gefährte nicht nur »aus politischen Gründen« nicht mit - Rudolf pflegte seinen treuen Gefährten zudem, lediglich mit fünf Mark, Taschentuch und Kamm ausgestattet, menschrechtswidrig im finstersten Wald auszusetzen (»Der findet sich schon zurecht«).

Auch kam bald zutage, dass Sudau von der Biografie, die Rudolf über ihn veröffentlicht hatte, gar nichts wusste, geschweige denn eine Autorisierung vorlag. Ich nahm die Sache in die Hand und handelte wegen der Verletzung des Persönlichkeitsrechts meines Mandanten als Schmerzensgeld Freibier auf Lebenszeit und Totentrompeten »All Sudau can eat« aus. Doch der Streit eskalierte abermals, als Herr Sudau zum Jahresende berichtete: »Herr Rudolf meint, man könne ihn mit all dem Silvesterscheiß gehörig am Arsch lecken; ebenso könne ja mal das neue Jahr, ihn, Rudolf feiern. Hm. Beurteilen Sie diese Haltung selbst. Ich möchte sie nicht weiter kommentieren.« Kurz darauf empfahl mir Herr Rudolf dringlichst, »dem sauberen Herrn Sudau« kein Wort zu glauben. »Er ist ein dreckiger Lügner. Klar, dass seine ›Informationen‹ in der Fachwelt als umstritten gelten müssen.«

Ich kam mit den Vermittlungsversuchen kaum noch hinterher und schrieb schließlich jedem Einzelnen, er sei doch schließlich der Vernünftige von ihnen beiden, und der Klügere gebe nun mal nach. Dummerweise flog die Sache auf: »Bleichgesichtige Squaw«, tadelte der empörte Sudau, »spricht mit gespaltener Zunge. Gleiche Schmeichelworte hat sie mit der elektrischen Post zwei Kriegern des tapferen Vogtlandstammes gemacht. Krieger Rudolf hatte dem Krieger Sudau im Feuerwasserrausch davon geprahlt. Sie sind nun beide voll der Unehre und werden von den Squaws in den anderen Zelten verlacht.«

Spätestens beim gemeinsamen Verkosten von Rudolfs Eigenbräu - Sudau hatte noch gewarnt: »Nicht dass der Kriepel seinen Hirngespinsten in Sachen Bierselberbrauen nachgeht. Der Mann läuft blindlings in sein Verderben. Und wer darf das ungenießbare Zeux dann wieder aussaufen? Seense« - waren die schärfsten Konkurrenten plötzlich wieder ein Herz und eine Seele. »Sudi« sei sein »besta Kumpil«, gab Herr Rudolf zu Protokoll. »Det sare ick Ihnen, Frau Hofmann, dieweil ja heut dit Bier fertick gewordn is, wa. Und Sudi, wa, der hat ebend hier watt uff die Schachtel gekricht und dit wars. Jetz sindwa kwitt und dito.«

Eine Abmahnung kassierte Rudolf trotzdem: »Ihr Umgang hat sich auf alarmierende Weise in Ihrem sprachlichen Ausdruck niedergeschlagen. Ferner ist es Ihnen nicht gelungen, Ihre ambivalenten Gefühle für Herrn S. in die richtigen Bahnen zu lenken. Sollte S. weiter in die Kriminalität abrutschen, haben allein Sie das zu verantworten.« Irgendwann kam Herr Rudolf dann auf eine selten blöde Idee. Ich müsse »jetzt ganz stark sein. Aber den Herrn Sudau gibt es nicht. Die fiktive Person Holger Sudau war immer ›Projektionsfläche‹ für die Dinge, die wir uns nicht zu machen getrauen, verstehen Sie? Nun überrascht uns die Bestimmtheit, mit der ausgerechnet Sie, tapfere Redakteurin eines nicht unerheblichen Monatsmagazins, auf so ein billiges Konstrukt hereinfallen.« Aber nicht mit mir! Ob er eventuell Temperatur habe, erkundigte ich mich, oder ob Sudau ihm was in den Sud gekippt habe. »Ich versteh ja, dass Sie nur schwer den großen Sudau neben resp. über sich akzeptieren können, aber Sie dürfen sich da nicht so hineinsteigern.«

Ich glaubte längst nicht mehr an einen Zufall, als mich an meinem Geburtstag ein anonymer Brief erreichte: »Vergessen Sie Sudau! Ein aufmerksamer Bürger«. Dies nur einer von vielen Versuchen, eine bekennende Sudau-Sympathisantin mundtot zu machen.

Als Rudolf sich in Widersprüche verstrickt hatte (»Glauben Sie im Ernst, so eine Pflaume wie Sudau könnte die lebensgefährlichen Abenteuer bestehen, die in Morgenbillich beschrieben sind?«), gab er es schließlich auf, seine Existenz zu leugnen. Sudau war fortan unser Retter in der Not. Wo wir versagten, sandten wir Stoßgebete an den Hlg. Holger. Bei unerträglicher Hitze schickte er Regengüsse; wenn es wie aus Eimern goss, wartete Sudau mit einer Droschke vorm Haus. Überfiel uns eine unerklärliche Traurigkeit, brachte er uns zum Lachen. Manchmal wurde er mir richtig unheimlich. Kaum jemand weiß, dass niemand anders als Super-Sudi für das Ausscheiden der deutschen Nationalelf bei der Fußball-WM 2006 sorgte, damit der schwarz-rot-goldene Spuk da draußen endlich ein Ende hatte: »Na, wie war ich?« (H. Sudau am Tag danach)

Da ich ahnte, dass Rudolf ihn dringender brauchte, als er zugeben mochte, schickte ich Doc Sudau nach Rettungseinsätzen im Norden rasch zurück ins Vogtländische und ließ ihn dort mit verschiedenen Wohlbefindlichkeitsherbeiführungsstrategien experimentieren. Freilich übertrieb er mal wieder maßlos, als er einen weite Teile Thüringens lahmlegenden Stromausfall arrangierte, nur um Rudolf am (Über-)Arbeiten zu hindern. Nachdem ich ihn ein andermal wegen Verletzung seiner Aufsichtspflicht gerügt hatte, berichtete Rudolf am 26. Januar 2007: »Mit Sudi bin ich über Kreuz. Mit seiner Überwachungspflicht nahm er es etwas zu genau. Weil er sonst Ärger ›mit die Kirsche in Hamburch‹ bekäme, hat er alle fünf Minuten bei mir reingekuckt, ob ich auch brav faulenze oder zügig mit der Arbeit vorankäme.« Doch dann war offenbar selbst Sudau mit seinem Latein am Ende.

In Rudolfs letzter Nachricht an mich vom 2. Februar 2007 kam sein lebenslanger Gefährte nicht mehr vor. Am selben Morgen verließ Michael Rudolf für immer sein Haus in Greiz, Pilzsammler fanden seine Leiche knapp ein halbes Jahr später in den Tiefen des Thüringer Waldes. Von Holger Sudau fehlt weiterhin jede Spur.