nd-aktuell.de / 22.05.2021 / Kultur / Seite 14

Er trifft, aber erledigt nicht

Zum 90. Geburtstag des langjährigen nd-Zeichners Harald Kretzschmar

Hans-Dieter Schütt

George Tabori schaut wie Pumuckl, Peter Handke reckt den Kopf wie eine angealterte Blume der Romantik, Thomas Bernhard ist rotnasig freundlich, Kafka dämonischer Teil eines dämonischen Schlosses ... die berühmten Zeichnungen und Acrylporträts von Harald Kretzschmar. Das erste Blatt entstand im Januar 1957: Wolfgang Langhoff. Monate später begann Kretzschmar seine »Prominenzyklopädie« - Künstlerskizzen, die bis zum Sommer 1991 wöchentlich, über 1300 Mal, im »Eulenspiegel« erschienen. Kultur, die zur Kult-Tour wurde.

Ein Zeichner erfasst einen anderen Menschen, aber alles Ausdrucksgewerbe läuft doch darauf hinaus, die eigene Notwendigkeit zu kultivieren. Das heißt: Kretzschmar zeichnet das Fremde - aber doch so, dass immer mit ins Bild kommt, was nur ihm selbst gehört. Man nennt das gemeinhin Stil, ein anderes Wort für Haltung. Dieser Künstler schaut nicht herab, sondern hin, nicht von oben, sondern eher von der Seite, die ihm niemals bloß Bilderbuch- oder Kehrseite ist. Heimlich schauen, ohne zu stören? Respekt nennt man das. Sezieren, ohne ins Fleisch zu schneiden. Diese Umgangs-Art mit Gesichtsgegenden ist Verweigerung von Modern Art - also: keine Häme, nie Zynismus oder arrogante Verzerrung. Kretzschmars Witz trifft, aber erledigt nicht.

Geboren wurde Harald Kretzschmar 1931 in Berlin-Steglitz, aufgewachsen ist er in Dresden. Das Knallige von der Spree mischte sich mit dem Knietschigen von der Elbe und ließ sich später in Kleinmachnow nieder, wo er nicht nur Wohner, sondern Wühler ist: Heimatforscher. Er gehörte zu den Wegbereitern des Greizer »Satiricums« 1975, dieser ständigen, wahrhaft nationalen Karikaturensammlung der DDR, mit Brücken ins Geschichtliche, ins Europäische. Tradition als Tankstelle. An der Dresdner Kreuzschule war der noch schuljunge Kritzler K. gefragt worden, wieso er sich die Frechheit nehme, Kulturheroen wie Thomas Mann zu zeichnen. Ganz einfach, sagte Harald, er kenne ihn doch, er habe ihn im Radio gehört. Und in einem Harzer Urlauberheim, in Schierke, sah Herr K. den berühmten Schriftsteller Bernhard Kellermann sitzen, blickte genau hin, speicherte, schoss hinaus, zeichnete, kehrte zurück. Kellermann staunte und gab ein Autogramm.

Kretzschmar zeichnet Größen, aber auch (politische) Gernegrößen. Denen bleibt die Frage eingeschrieben: Wie viel Köpfchen ist wohl dabei? Der Künstler mit der merkwürdigen Liebe zu Flanellhemden ist ein Meister der Kenntlichkeit: Schwarz-Weiß als reichhaltigste Farbe. Das Wesen seine Gerätschaft: zart das Blei, unbestechlich der Filz, fräsend jeder Stift - doch stets obsiegt im Werk die Anschauung eines Dienenden. Ungeeignet für Comedy, für Komödie indes nicht. Comedy ist Tieffliegen, Komödie hat Untiefen.

Wenn von einem gesagt wird, er sei einer der besten Schreiber unter den Zeichnern, aber auch der beste Zeichner unter den Schreibern, so kann das härteste Kritik sein, kostümiert als Schmeichelei. Kretzschmar aber ist ausgewiesen solitär, da wie dort, der Stift immer zwiefach in Arbeit, zeichnend wie schreibend. »Verbindungen taten sich auf. Verstrickungen ergaben sich, lösten sich wieder. Gute Absichten. Böse Umstände. Dramatische Abstürze folgten den hoffnungsvollen Aufbrüchen. Da begriff ich: Das ist es. Was? Na - Geschichte.«

Kritisch blickt er in seinen Texten auf den Zeitgeist (»Meinung changiert gern hin zu Anmaßung oder Unterstellung.«), er spöttelt gegen identitätspolitischen Eifer (»Es lebe die Minderheit! Linkshänder, haltet stand gegenüber der Mehrheit der Rechtshänder!«), er verteidigt alles Sinnstiftende, so auch das »kesse Erbe des Ostens«, er fürchtet in Gesinnungs- und Genderfragen »das Virus verbohrter Ernsthaftigkeit«, und: Er geht dem Net nicht ins Netz (»das Übermaß an verbalen Gewaltorgien genießt Freiheiten im Netz, die man intelligenteren und humaneren Sujets wünschen würde«).

Ich schaue bei Leuten wie ihm gebannt auf die Finger. Als seien die das Wunder. In meinem Kopf bin ich Monet und Picasso, bin also auch Kretzschmar. Denn was ich mir da alles ausmale! Aber dann stelle ich fest, dass der Weg zum Kommunismus wohl weit kürzer ist als dieser eine Meter vom Kopf bis zur malenden Hand. Eine Katastrophe. Die Finger sind klobige Dinger, die nicht wirklich wissen, was sie tun, wenn sie zeichnen sollen. Nein, Hände weg von den Händen - das geheimnisvolle Hirn ist es, Schaltstelle wie eine Galaxisgründung. Wir leben ja in Zeiten, da die Auslöschung der Welt geschieht: in endlosen Serien gleichförmigster Reproduktion. Kretzschmar gehört zur Gilde der Retter: Alles Abgebildete hebt die Gleichheit mit gleichgeschalteter Realität auf.

Er stellt aus, er schreibt Bücher, er zeichnete über zwanzig Jahre für diese Zeitung, Aktuelles wie Philosophisches, und wie früher in der »Weltbühne«, so bleibt er auch dem »nd« ein leidenschaftlicher Feuilletonist, immer Flaneur, Gestalter, Chefredakteur in einem, Einmischer, ruhelos, beschlagen im ewigen Schnelligkeitskurs Zeitung. Weil er allergisch ist gegen falsche Töne und auf seine Geistesgegenwart besteht, kann er nicht ununterbrochen freundlich sein. Natürlich nimmt er sich auch das Recht, beim Rennen um die neueste ästhetische Mode einfach stehenzubleiben und dann väterweisheitszähneknirschend die Welt zu zermurren. Oder sie zu betoben. Und seine Leserschaft zu betören - indem die sich ertappt fühlt in dem, was er meint.

»Stets erlebe ich das Falsche«. Wer seine Erinnerungen so spitz betitelt, weiß sehr wohl, was im Leben Wert hatte und behält. Neunzig Jahre und eine staunenswerte Beständigkeit: Er lässt sich nicht täuschen vom Lächeln der Bösen, die sich überall als Partner verdingen. Er steigt nicht ein in den gut gelenkten Bus, der die bestehenden Verhältnisse wie Sehenswürdigkeiten abfährt. Auf einstürzende Überbauwerke schaut Kretzschmar mit einem unberührten Achselzucken, denn Künstlers bebendes Augenmerk gehört dem dünnen Haarriss an jeder Wand. Harald, herzlichen Glückwunsch! Kraft! Für weitere Übertreibungen - in Richtung der Wahrheit. Schreib, zeichne, also: Halt weiter den Rand, aber nicht hinterm Berg!

Gemeinsame Bücher von Harald Kretzschmar und Hans-Dieter Schütt: »Macher und Gemachte«, »Hauptsache kopflos« (im Dietz Verlag Berlin).