nd-aktuell.de / 26.05.2021 / Kultur / Seite 8

Verehrt und geachtet in einer Männerwelt

Frauen-Geschichte(n): Saloniére Rahel Varnhagen von Ense

Martin Stolzenau

Ihr literarischer Salon war über Jahre Mittelpunkt des Geisteslebens in Berlin und zog Geistesgrößen aus ganz Deutschland und dem Ausland an. Bei ihr verkehrten Vertreter aller Stände: Militärs, Diplomaten sowie Künstler. Zu ihren Gästen zählten Berühmtheiten wie die Brüder Alexander sowie Wilhelm von Humboldt, Jean Paul, Friedrich Schlegel, Ludwig Tieck, Heinrich von Kleist, Heinrich Heine, Friedrich Hegel, Leopold von Ranke, Friedrich Schleiermacher und Franz Grillparzer. Mit ihrer Goethe-Verehrung trug sie zudem maßgeblich zum Ruf des Dichterfürsten von Weimar als geistige Autorität für ganz Deutschland bei. Zu den anspruchsvollen Gesprächen in ihrem Salon gesellte sich intensiver Dialog per Brief, später von ihrem Mann in mehreren Bänden herausgegeben. Die eloquente Rahel Varnhagen von Ense galt und gilt als Repräsentantin der frühen Frauenbewegung.

Rahel Levin wurde am 26. Mai 1771 als ältestes Kind eines vermögenden jüdischen Kaufmanns und Bankiers in Berlin geboren. Das Mädchen offenbarte früh eine ungewöhnliche Begabung mit Vorliebe für Musik, Literatur, Theater und später auch für Politik. Nach dem Tod ihres Vaters 1790 nahm Rahel Levin zunächst an der Seite der verwitweten Mutter aktiv Einfluss auf die Bildung und Erziehung ihrer jüngeren Geschwister, ehe sie in ihrer Wohnung einen literarischen Salon eröffnete, der schnell zum Anziehungspunkt für intellektuelle Zeitgenossen gedieh und solchen, die dazugehören wollten, darunter Prinz Louis Ferdinand, das Enfant terrible der preußischen Königsfamilie. Der Philosoph Schleiermacher entwarf von Rahels Salon inspiriert gar den »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens«.

Aus dem für eine Jüdin und Frau der damaligen Zeit ungewöhnlichen Umgang entwickelten sich engere Freundschaften wie zu David Veit sowie Carl Gustav von Brunnemann, ebenso Liebesaffären wie zum Grafen Karl von Finckenstein sowie Don Raphael d’Urquijo, einem spanischen Diplomaten.

Nach der für Preußen vernichtenden Niederlage in der Schlacht von Jena und Auerstedt 1806 und der damit verbundenen napoleonischen Besetzung des Landes kam die kluge wie schöne Saloniére zeitweilig in wirtschaftliche Nöte. Daher trat sie in engere Beziehungen zu Alexander von der Marwitz sowie Karl August Varnhagen von Ense, der sie zu ersten Veröffentlichungen im »Morgenblatt« von Johann Friedrich Cotta (Gründer des noch heute existierenden Verlages Klett & Cotta) anregte und dafür sorgte, dass ihre in Briefen geäußerten Lebensansichten, insbesondere auch zu den Frauen zustehenden Rechten, in einer Art von »Zirkularschreiben« verbreitet wurden.

Zu Beginn der antinapoleonischen Befreiungskriege wechselte Rahel Lewin nach Prag, wo sie sich als »Versorgungsorganisatorin« und Mitarbeiterin des Diplomaten Varnhagen von Ense bewährte. Die beiden verliebten sich und heirateten 1814. Rahel begleitete ihren um vierzehn Jahre jüngeren Mann (für damalige Verhältnisse ein Skandal) zunächst zum Wiener Kongress, auf dem sich nach Napoleons Niederlage 1815 bei Waterloo die europäischen Großmächte den Kontinent in Einflussspähen aufteilten. Anschließend ging sie mit ihm ins Großherzogtum Baden. Doch dort begegnete man der geistessprühenden preußischen Diplomatengattin eher misstrauisch. Nach der Rückversetzung ihres Mannes nach Berlin führte sie ihren literarischen Salon in der Mauerstraße mit neuem Andrang fort.

Rahel Varnhagen von Ense verstarb nach längerer Krankheit mit 61 Jahren am 17. März 1833. Zu ihren letzten Vertrauten, die sie an ihrem Krankenlager betreuten, gehörte Bettina von Arnim, ebenfalls eine beeindrucken Frau ihrer Zeit, Schriftstellerin, Vertreterin der deutschen Romantik. Rahel fand ihre letzte Ruhestätte auf dem Friedhof am Hallischen Tor in Berlin erst 1867, neben ihrem Mann auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof. Die Grabstätte blieb erhalten und besitzt inzwischen den Status eines Ehrengrabes der Stadt Berlin. Die letzte Sammelausgabe ihrer kulturhistorisch bedeutsamen Schriften umfasste 1983 als »Rahel-Bibliothek« zehn Bände. In Berlin, Hamburg und Köln tragen Straßen ihren Namen.