nd-aktuell.de / 27.05.2021 / Kommentare / Seite 8

Keine Angst vor den Akademikern!

Gebildete Wähler in den USA votieren zunehmend gegen ihr Klasseninteresse und stehen Umverteilung offener gegenüber

Moritz Wichmann

Das Misstrauen von Linken gegenüber »Akademikern« als Wählergruppe oder Befürwortern von Umverteilung ist falsch. Das zeigt das Beispiel USA. Dort geht es nämlich auch in der Frage, wie man linke Mehrheiten an der Wahlurne organisiert, um die Rolle von Arbeiterklasse und Akademikern im politischen Prozess. Joe Biden hat es 2020 geschafft, dass der Stimmenanteil aus der »working class« nicht noch weiter wegbrach, vor allem aber brachten ihn Akademiker in US-Vorstädten »über die Ziellinie«.

Dass auch in Zukunft weiße Akademiker die Demokraten unterstützen und dadurch eine mehr oder weniger progressiv-sozialstaatliche gesellschaftliche Agenda[1] durchgesetzt werden kann, sei wegen ihrer politischen Wankelmütigkeit »gefährlich«, argumentieren die »linken Traditionalisten« um die Zeitung »Jacobin«[2]. Biden habe ja auch nur knapp die Wahlen gewonnen. Eine Mitte-links-Partei, die zunehmend von Akademikern gewählt werde und versuche, diese zu mobilisieren, werde den überholten Ansatz gesellschaftlicher Modernisierung, verbunden mit Sozialabbau, fortführen, so der Vorwurf.

Auf der Strecke bliebe die Arbeiterklasse - und zwar sowohl sozial durch fehlenden Sozialstaatsausbau als auch kulturell, weil sie bei den politisch korrekten Normen des Uni-Milieus nicht hinterherkommt. Ohne Zweifel, die Arbeiterklasse zu mobilisieren, das kann noch gelingen. So ist Bidens Konkurrent Bernie Sanders im Vorwahlkampf[3] nicht daran gescheitert, weil er eine schlechte Kampagne organisiert hat. Besonders sein geradezu spektakulärer Erfolg bei der Mobilisierung von vorher weitgehend politisch apathischen Latino-Arbeitern[4] beim Vorwahlsieg[5] in Nevada[6] zeigt das.

Auch die deutsche Linke debattierte in der sogenannten Milieu-Debatte nach 2017 dasselbe Thema, das die Linkspolitikerin Sahra Wagenknecht dieser Tage ins Absurde weiterdreht[7]. Dabei wurden auch die Annahmen über die Arbeiterklasse und darüber, wie weiß oder männlich sie ist, kritisiert.

Doch auch die Annahmen über Akademiker müssen aktualisiert werden, sagen linke Empiriker[8] um Data For Progress[9] in der US-Debatte. Ihre These: Nach 30 Jahren progressivem Neoliberalismus bricht gerade eine Ära des Post-Postmaterialismus an. Ausgerechnet unter weißen Akademikern gibt es besonders viel Zustimmung zu linker Umverteilungspolitik - das zeigen Umfragedaten und Wahlergebnisse.

Die klassische politikwissenschaftliche Erklärung für die neue Offenheit für Umverteilung in Amerikas Vorstädten sind die Effekte politischer Polarisierung. Nach Jahren des Republikaner-Rechtstrends haben sich gebildete Weiße, die vielleicht Eigenheimbesitzer sind, gute Jobs haben, aber offene Diskriminierung gegenüber Minderheiten ablehnen und angewidert von Donald Trumps Vulgarität sind, den Demokraten zugewandt.

Sie wählen aus gesellschaftspolitischen Gründen gegen ihr Klasseninteresse. Weil ihre neue politische Identität »Demokrat« ist, unterstützen sie auch die sozialpolitisch und ökonomisch linkeren Programmpunkte einer Partei, die langsam Richtung Sozialdemokratie driftet. Eine weitere Erklärung ist die zunehmende soziale Prekarisierung auch unter Akademikern und eine Generation junger Amerikaner, die durch zwei Wirtschaftskrisen und immer größere soziale Ungleichheit radikalisiert wird.

Lesen Sie auch: Linke Strategie - Identitätspolitik einfach machen, aber sich nicht davon bestimmen lassen[10]

Doch ist der Linksschwenk unter Akademikern vielleicht nur oberflächlich? Antworten Akademiker in Umfragen so, wie es von ihnen als Demokraten »erwartet« wird, und handeln dann anders? Die Ergebnisse von Volksabstimmungen und der US-Kongresswahlen zeigen anderes: In den Bundesstaaten Maine, Idaho und Colorado stimmten Gegenden mit einem höheren Anteil akademisch Gebildeter 2017 und 2018 in größerem Maße für eine Ausweitung der staatlichen Armen-Krankenversorgung Medicaid. Und: Kongresswahlkreise mit einem höheren Anteil gebildeter weißer Wähler wählen mittlerweile linkere Demokraten-Politiker als solche mit einem größeren Anteil von Weißen ohne Universitätsabschluss.

Auch wenn besonders in den USA der Anteil von Wählern ohne Uni-Abschluss[11] sinkt, sollten die US-Demokraten und Linke hierzulande weiter versuchen, Arbeiter für ihre Politik zu mobilisieren. Doch auch Akademiker sind zunehmend verlässliche linke Wähler.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1149949.sozialdemokratisierung-der-usa-pop-up-sozialstaat.html
  2. https://www.jacobinmag.com/2019/10/future-liberals-want-matt-karp-populism-class-voting-democrats
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1135602.bernie-sanders-warum-bernie-sanders-verloren-hat.html
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1132324.vorwahlen-zur-us-praesidentschaftswahl-sanders-laesst-linke-in-den-usa-traeumen.html
  5. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1133267.usa-sanders-erzielt-sieg-bei-vorwahl-in-nevada.html
  6. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1149307.bernie-sanders-linke-haben-die-demokraten-in-nevada-uebernommen.html
  7. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1150833.sahra-wagenknecht-wenn-die-werte-fallen.html
  8. https://www.vox.com/policy-and-politics/22256052/democrats-white-suburban-voters-economy
  9. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1142871.data-for-progress-die-linke-zahlenmaschine.html
  10. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1150315.linke-strategie-identitaetspolitik-einfach-machen-sich-nicht-davon-bestimmen-lassen.html
  11. https://catalist.us/wh-national/