Im Unbegreiflichen daheim

Hans-Dieter Schütt über seine nd-Gespräche aus dreißig Jahren

  • Lesedauer: 5 Min.
Hans-Dieter Schütt
Hans-Dieter Schütt

»Als wär man der und der« heißt das neue Buch von Hans-Dieter Schütt. Es erscheint anlässlich des 75. nd-Geburtstages in der neuen Reihe »nd-Edition«. Versammelt sind Gespräche für diese Zeitung aus dreißig Jahren. Mit dem Autor sprach Verlagsleiter Olaf Koppe.

Hans-Dieter, warum heißt das Buch »Als wär man der und der«?
Die Formulierung geht auf Marin Walser zurück. Wir sprachen über eine leidige Erfahrung: Immer sollst du der Welt entsprechen, immer sollst du etwas Erlerntes für das Eigene halten. Man soll erfolgreich und andauernd so tun, als wär man der und der. Aber eindeutig definierbare Menschen sind langweilig. Man ist nicht der und der. Man ist lebenslang ein Wechselbalg.

Wechselbalg ... Und was ist mit dem festen Standpunkt, den man links gern pflegt?
Es ist doch erstaunlich, wie viele Meinungen in einem einzigen Menschen Platz haben. Sobald ich eine Meinung heftig vertrete, mobilisiere ich in mir sofort auch das Gegenteil.

Was bedeutet diese Erkenntnis für Interviews und Gespräche?
Es gibt immer eine Differenz zwischen uns selbst und dem Bild, das uns aussagt. Jeder Leitartikel zum Beispiel lässt weg, was einer Meinung im Moment ihrer Veröffentlichung als nicht zuträglich erscheint. Auskunft tendiert dazu, allgemein sein zu wollen.

Ich greife drei Gesprächspartner des Buches heraus - was geht dir bei den Namen durch den Kopf? Peter Atanassow, Regisseur des Berliner Gefängnistheaters aufBruch?
Intensives Leben in einer Nische. Hingabe an eine Welt von Gezeichneten. Der Schauspieler Edgar Selge sah eine Aufführung in Tegel und sagte: »Vielleicht packt dich im Gefängnis auf besondere Weise Wahrheit: dass du ein ausgesetztes Wesen bist und schneller, als du denkst, auf Abwege kommst.«

Götz George.
Er lieferte sein autorisiertes Gespräch an unserer Redaktionspforte ab, in Fahrrad
Sportkluft, und wurde lächelnd abgewiesen: Götz George? Da könne ja jeder kommen! Sinnlichkeit hieß für diesen Künstler: Spiel muss gleichermaßen elegant und rau sein. Er schmiss sich hinein, wo Schmutz winkte. Leben ist Schmutz.

Eduard Geyer, also: Fußball.
Fußball ist Philosophie: Plötzlich ist die Welt wirklich rund ... die Wahrheit aufm Platz ... nach dem Spiel ist vor dem Spiel ... dort hingehen, wo es weh tut ... und nie kommt der Ball aus der Richtung, aus der man ihn erwartet. Diese schönsten Phrasen, die es gibt. Ich will, wenn der Anpfiff kommt, keinen klaren Kopf mehr, ich will mich hemmungslos diesen Millionären hingeben, die ja eigentlich ein Hohn auf den sozialen Zustand der Welt sind. Ich gehöre zu denen, die sich bei Toren der deutschen Nationalmannschaft freuen.

Mir fiel auf, du hast eine Vorliebe für Leute, die sich extrem ausleben.
Ich mag die Besessenen. Und Leute, die es heiter ertragen, im Unbegreiflichen daheim zu sein. Die nicht festgezurrt leben. Aufregend sind Gesprächspartner, die nicht ständig betonen, wie unantastbar sie sind und wie sehr sie den Durchblick haben in dieser hässlichen, schönen Welt.

Und was ist mit der besseren Welt?
Peter Sloterdijk - einst auch Gesprächspartner fürs »nd« - verweist auf Nietzsche: Vielleicht seien Menschen der Moderne gar nicht mehr aus dem Stoff, aus dem man eine Gesellschaft formen könne - wir sind zu diffus, zu vielschichtig, zu konturenlos. Ein frösteln machendes Fazit, aber einleuchtend, wenn man in die Welt schaut. In die Welt und vor allem in den Spiegel.

Immer wieder hast du Lebensintensive interviewt - und Einzelgänger.
Der Einzelne ist manchmal wirklich am stärksten allein: Kein Zweiter macht sich schuldig, und man bleibt unbehelligt von Debatten um die angeblich richtige Linie. Jede Partei erhöht die Lust an der Vereinzelung.

Im Buch gibt es - außer Jutta Ditfurth - keine Gesprächspartner aus der Politik. Warum?
Gefesselte Gulliver allesamt. Gespräche mit Politikern muten wie eine fatale Einladung an: Komm mit ins Elend!

Neben dem nd-Gesprächsbuch erschien aber soeben ein Dialogband mit Berlins Kultursenator Klaus Lederer. Warum mit ihm?
Wegen bestimmter Ansichten, was heute links sei. Etwa: Bemühung um praktische, institutionelle Politik, statt Radikalisierung von Protestposen. Oder: »Der Marxismus taugt nicht mehr als Matrix für messianische Dimensionen. Eine geschlossene Theorie ist höchstens Trostpapier, um die Wartezeit auf eine Zukunft zu verkürzen, die doch unter starkem Verdacht steht, nie zu kommen.«

Was liest du gerade?
Bernd Stegemanns kluge Texte gegen linke Neojakobiner und identitätspolitischen Eifer.

Facebook, Instagram, Tweets?
Um Himmels Willen!

Hast du eine eigene Website?
Als Journalist? Nein. Dafür bin ich nicht unwichtig genug.

Geht es dir in deinen Gesprächen um Wahrheitsfindung?
Für Wahrheitsfindung gibt es keine verlässliche Methode. Und ich frage nicht, um recht haben zu wollen. Es geht darum, sich von Gesprächspartnern überraschen zu lassen, mit der Haltung: Ich verstehe vielleicht nicht gleich alles, ich teile nicht alles, aber dennoch lasse ich mir sagen ...

Gibt es eine Frage, auf die sich letztlich alles konzentriert?
Ja, eine Frage vereint alle: Wie soll man leben? Die gültige Antwort weiß niemand, kein Dichter, kein Forscher, kein Politiker. Und die Suche nach Antworten trennt die Menschheit seit jeher in zwei Gruppen. Die einen sehen kein Land, den anderen gehen die neuen Ufer nie aus. Es müssten zwei Wahrheiten zusammenfinden: Der Blick derer, die nur Zukunft schauen, kreuzt sich mit dem Blick derer, die leider schon zu viel gesehen haben.

Warum überhaupt diese Neigung zu Gesprächen?
Ich weiß, es gibt Kollegen, die sich Interviews gänzlich versagen. Bei einigen sehe ich das ein: Sie haben selber was zu versenden. Interviews bedeuten Bescheidenheit: Man hört nur zu.

Glaub ich dir nicht.
Ich liebe Zwei-Personen-Stücke.

Die haben zwei Hauptrollen.
Erwischt!

Das vollständige Gespräch finden Sie auf unserer Webseite unter:
dasND.de/Sendung24042021

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