Musikalischer Wetterbericht

Der Komponist und Regisseur Ari Benjamin Meyers hat fünf Jahre an seinem Musiktheaterwerk »Forecast« über den Klimawandel gearbeitet - jetzt ist es als Videostream zu sehen

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 5 Min.

Sieben Musiker*innen stehen im Halbkreis auf der Bühne. Sie haben ein ungewöhnliches Set an Instrumenten dabei. Rechts außen spielt Susanne Fröhlich mal eine zarte, zwitschernde Blockflöte, mal greift sie zur schrankgroßen Bassblockflöte und entlockt ihr dunkle Klänge. Neben ihr streicht Patrick Sepec über die Saiten des Barockinstruments Viola da gamba, neben ihm wiederum bearbeiten Nico van Wersch, Jan Terstegen und Thomsen Merkel die klassischen Rockmusikinstrumente E-Gitarre und E-Bass, während die äußere linke Flanke wieder von den musikhistorisch uralten Instrumenten Harfe (Susanne Kabalan) und Horn (Elena Kakaliagou) besetzt ist. Der Komponist und Regisseur Ari Benjamin Meyers wollte in diesem Projekt die Zeiten verschmelzen. Denn »Forecast«, so der Titel dieses Musiktheaterwerks, das in der Berliner Volksbühne gezeigt werden sollte, ist ein Stück, das viele Zeiten in sich trägt.

In »Forecast« geht es um das Wetter, genauer gesagt, um die Versuche des Menschen, Anzeichen zu deuten und das kommende Wetter vorherzusagen. Während das so unorthodoxe Musiker*innenensemble Klänge produziert, die an Wind, an Sturm, an Donner und an Regen, aber auch an sachte wehende Brisen erinnern, bauen im Hintergrund zahlreiche Bühnenarbeiter*innen erst eine Wand auf, dann ein Dach. Danach entsteht aus ihren Händen ein ganzes Haus.

Parallel dazu lässt die Schauspielerin Johanna Bantzer in skizzenhaften Strichen die Geschichte der Meteorologie Revue passieren. Und die Geschichte der Klimaveränderungen erzählt sie damit gleich mit. »Forecast« ist als Stück über den Klimawandel angelegt. Um den Hausbau des Menschen geht es dabei natürlich auch, vor allem aber um die Unbilden, die dieses Gebäude bedrohen und die, zum Teil zumindest, von Hausbauer*innen und Hausbewohner*innen ausgelöst und verstärkt werden. Damit sind wir automatisch wieder beim Thema Klima.

»Ich habe mir gedacht, ich habe da in der Volksbühne einen Saal mit achthundert Leuten. Das dringendste Thema, das wir haben, ist der Klimawandel. Das muss in so ein Theater wie die Volksbühne«, erzählt Meyers »nd«. Seit 2016 arbeitet er an dem Projekt. Geplant war die Premiere eigentlich unter dem Intendanten Chris Dercon. Dann purzelten die Intendanten in dem Haus. »Forecast« immerhin blieb nach dem Abgang von Dercon 2018 im Produktionsplan und hat jetzt auch den Interimsintendanten Klaus Dörr überlebt, der kürzlich wegen Vorwürfen der sexuellen Belästigung und des Machtmissbrauchs zurückgetreten ist.

Bereits für April 2020 war der neue Premierentermin geplant. Am ersten Probentag aber kam Corona! Das Virus war natürlich schon vorher da, auch in Berlin, auch in Deutschland. Aber just an jenem Tag, an dem die Proben beginnen sollten, entschied der Berliner Kultursenat, dass die Theater bis auf Weiteres geschlossen bleiben müssen.

An jenem 10. März 2020 war Meyers mit dem Autor dieses Textes in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz verabredet. Ein Hauch des Surrealen lag bereits in der Luft. Das Haus war leer, wie es mitten am Tag die für den Abendbesuch konzipierten Kulturstätten gewöhnlich sind. Aber bereits zu diesem Zeitpunkt lag die Ungewissheit der kommenden Monate über den roten Polstern.

Die Proben wurden dann schließlich abgesagt. Und Meyers, nach Jahren der Beschäftigung mit Wettervorhersagen zum Prognoseprofi geworden, entschied: »Wir verschieben die Produktion gleich um ein ganzes Jahr.« Die Hoffnung war, dass dann alles wieder normal sein würde.

Das wurde es bekanntlich nicht. Meyers und sein Ensemble durften in der Zwischenzeit immerhin proben. »Es war wie ein Geschenk, jeden Tag eine Probe haben zu dürfen«, erinnert er sich an diese Zeit. Sie war sogar von Luxus geprägt. »Zweieinhalb Wochen durften wir auf die Große Bühne. Das gibt es im Repertoirebetrieb ja sonst so gut wie niemals«, betont er.

Die Hoffnung, irgendwann im späten Frühling oder ganz frühen Sommer aufzutreten, war damals auch noch vorhanden. Weiter in die Zukunft reichen konnte die Hoffnung allerdings nicht. Denn im Sommer steht an der Volksbühne der nächste Intendantenwechsel an, und der neue Chef, der Regisseur und Autor René Pollesch, will nichts, aber auch gar nichts aus der Zwischenphase nach dem Ende der Ära von Frank Castorf übernehmen. Nicht einmal eine Produktion, die von einem freien Künstler stammt, der mit den alten Verstrickungen am Haus so gut wie gar nichts zu tun hat und thematisch wie ästhetisch so perfekt in unsere seltsame Gegenwart zu passen scheint.

Damit »Forecast« nicht komplett im Nirwana verschwindet, wurde Ende April eine Hybride aus Generalprobe, Workshop und Showcase vor insgesamt 18 Fachbesucher*innen aufgeführt. Für alle, die da waren, war es ein berührender Moment. Wieder im Theater sein, wieder vor anderen Menschen auftreten, endlich wieder zusammenkommen, statt sich isoliert auf Zoomkacheln oder verhuscht an Straßenecken wiederzufinden.

Die Schlussszene von »Forecast« verstärkte diesen Gemeinschaftssinn noch. Denn darin geht es darum, gemeinsam ein Haus zu bauen - aus musikalischen Fragmenten, gemeinsam durch Musiker*innen, Schauspieler*innen und Zuschauer*innen. Die einen spielten die Melodiefragmente, die anderen interpretierten sie lautmalerisch. Und unter ihren Masken brummten und summten auch die Zuschauer*innen die Klänge mit.

Eine digitale Fassung der Arbeit in Form von fünf Kurzfilmepisoden unter dem Titel »Forecast Films« können noch bis nächsten Montag auf der Website der Volksbühne kostenfrei im Stream angesehen werden. Meyers hofft jetzt, dass das Werk, an dem er immerhin fünf Jahre gearbeitet hat und das ein so zentrales gesellschaftliches Problem wie den Klimawandel zum Thema hat und in das sich die Pandemie so tief eingeschrieben hat, von anderen Häusern und von Festivals weltweit eingeladen wird. Der Produktion ist es zu wünschen. Denn sie ist selbst eine Art Spiegel der globalen Veränderungen. Im Verlaufe des Pandemiejahres geriet Meyers nicht in Versuchung, das Stück den sich wandelnden Zeiten anzupassen. Vielmehr beobachtete er, dass die Zeiten selbst das Stück veränderten.

»Die Texte haben eine neue Bedeutung erfahren, weil die Welt ringsum sich verändert hat«, sagt Ari Benjamin Meyers. »Der Klimawandel ist schneller vorangeschritten als noch 2016 gedacht, als ich das Projekt begonnen habe. Corona hat es zusätzlich mit neuen Bedeutungsschichten aufgeladen.« »Forecast« - das ist das kongeniale Musiktheaterstück zu unserer Gegenwart. Jetzt muss es nur noch aufgeführt, gesehen, gespürt werden.

Online verfügbar bis 31.5.

www.volksbuehne.berlin

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