Kein Frauenthema

Die »Marxistische Literaturtheorie« von Helga Gallas wird 50 Jahre alt

Wenn Feminist*innen die Abwesenheit von Frauen* in der Geschichte der Literatur, Politik oder Wissenschaft kritisieren, wird ihnen gern entgegnet: Ja, das sei blöd, aber wegen des Patriarchats gäbe es in diesen Bereichen nun einmal kaum weibliche Protagonist*innen. Die Widerlegung dieser Annahme ist absolut möglich, erfordert allerdings oft etwas archäologischen Aufwand. Archäologin in dem Sinne, aber selbst auch Akteurin, ist die Germanistin Helga Gallas, deren Buch »Marxistische Literaturtheorie. Kontroversen im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller« vor genau 50 Jahren im Luchterhand-Verlag erschien.

Im Jahr 1971 bewegt sich Gallas sozio-politisch in einer Männerdomäne: der Neuen Linken. Autorinnen wurden hier trotz entstehender Zweiter Frauenbewegung häufig nur dann beachtet (oder publiziert), wenn sie »Frauenthemen« bearbeiteten. Die »Marxistische Literaturtheorie« fällt nicht in diese Kategorie, wird aber trotzdem sogar zu einem Standardwerk - und übt eben doch in zweierlei Weise praktische Patriarchatskritik: durch das Faktum von Gallas’ Autorinnenschaft sowie ihren selbstverständlichen Einbezug von weiblichen Kommunist*innen in ihre Literaturgeschichtsschreibung. Namentlich die Theoretikerin Lu Märten, die Dramatikerin Berta Lask und Asja Lacis, Mitarbeiterin im dadaistischen Piscator-Theater.

Dennoch ist Lacis heute nicht etwa dafür bekannt, dass sie seit 1919 vor Arbeiterpublikum in Vereinssälen und Hinterhöfen »proletarisches Theater« organisierte. Eher kennt man sie als Objekt der Begierde Walter Benjamins aus dessen »Moskauer Tagebuch«. Lu Märten wiederum scheint vollkommen in der Versenkung verschwunden - allerdings nicht ohne dem großen Denker Benjamin auf andere Weise in die Quere gekommen zu sein. Sie stellte offenbar eine These auf, »die ähnlich Walter Benjamin später vertrat«, wie Helga Gallas trocken festhält. Es handelt sich um die (für Benjamins Werk recht zentrale) Annahme, »daß das Proletariat die bisherigen Kunstformen für seine ›Zwecke‹ kaum wird übernehmen können, daß diese Zwecke ihren adäquaten Ausdruck vielmehr in gänzlich neuen Formen (…) finden werden: dem Film etwa.« Die Schriftstellerin Berta Lask ist heute ebenfalls selbst linken Germanistinnen kaum mehr ein Begriff.

Umso wichtiger also, dass die »Marxistische Literaturtheorie« (wenn auch bereits vor fünf Jahrzehnten) diese Frauen als politische Personen erfasst, um genau zu sein: als Beteiligte an der Auseinandersetzung über das Verhältnis von Literatur und Klassenkampf innerhalb der Arbeiter*innenbewegung. Übrigens sind viele der Fragen, die in den 1920er und 1930er Jahren - teils mit harten Bandagen - debattiert wurden, heute noch offen: Wie kann Literatur gesellschaftskritisch sein? Wie lässt sich Klassenkampf literarisch gestalten? Müssen »die Ausgebeuteten« selbst über ihre Lage schreiben und (wie) können sie dies überhaupt?

Mit einem Kernelement dieser Probleme beschäftigte sich im 21. Jahrhundert prominent wieder eine weibliche Literaturwissenschaftlerin: die marxistische Feministin Gayatri Chakravorty Spivak in »Kann die Subalterne sprechen?« aus dem Jahr 2009. Während sich über die Thesen Spivaks kontrovers diskutieren lässt, gehört ihr Text zweifellos zu den bedeutenden zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis von Unterdrückung, Herrschaft und Repräsentation. Dennoch hat Spivaks Essay derzeit nicht einmal einen eigenen Eintrag auf Wikipedia.

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