nd-aktuell.de / 05.06.2021 / Politik / Seite 21

Eine bessere Pflege ist möglich

Der Pflege- und Sorgesektor muss dringend grundlegend reformiert werden. Es gibt konkrete Vorschläge, doch fehlt es am politischen Willen, sie umzusetzen

Lena Böllinger

Noch ist nicht abzusehen, ob die katastrophalen Pflege- und Sorgeverhältnisse ein zentrales Wahlkampfthema sein werden. Zuletzt äußerten sich die drei Kanzlerkandidat*innen von Union, SPD und Grünen am 1. Mai vage zum Thema. Es war recht unverbindlich von Anerkennung und besserer Bezahlung die Rede. Konkreter wurde es bislang nicht. Derweil streitet man in der Großen Koalition seit Wochen über Bezahlung und Tarifbindung in der Altenpflege. Substanzielle Veränderungen für den gesamten Sorge- und Gesundheitssektor sind jedoch nicht im Gespräch. Dabei gibt es seit Langem sehr konkrete und realpolitisch orientierte Reformvorschläge, deren Umsetzung nach anderthalb Jahren Pandemie längst überfällig ist. Sie betreffen vor allem die Organisation und Finanzierung von bezahlter und (bislang) unbezahlter Sorge- und Pflegearbeit.

Schauen wir uns die Vorschläge im Einzelnen an: Für den Bereich der bezahlten Sorge- und Pflegearbeit steht seit Jahren die Forderung im Raum, sämtliche Sorgeeinrichtungen, insbesondere die Altenpflege und die Krankenhäuser, sofort dem profitorientierten Markt zu entziehen. Denn die aus einer Managementlogik heraus erdachten und betriebswirtschaftlich orientierten Punktesysteme und Fallpauschalen reduzieren individuelle Behandlungsverläufe und Betreuungssituationen auf statistische Durchschnittsgrößen. An diesen statistischen Werten müssen sich Pflegende und Sorgende orientieren, auch wenn sie damit den Sorgeempfänger*innen und Pflegebedürftigen nicht gerecht werden.

Sorge und Pflege als Ware

Wenn man Sorge und Pflege in ein standardisiertes, warenförmiges Produkt verwandelt, torpediert man damit systematisch den Kern dieser Arbeit: Zwischenmenschliche Beziehungen, die Zeit und Vertrauen brauchen und die zugleich in hohem Maße Unwägbarkeiten und Unvorhersehbarkeiten ausgesetzt sind. Eine Geburt kann sich hinziehen; der Heilungsprozess nach einer Operation kann sich ungeplant verzögern; die Versorgung einer alten Person kann nach dem aufregenden Besuch der Familie länger dauern, als es irgendein Durchschnittswert vorsieht. Kurzum: Man schädigt die Sorgenden wie die Sorgeempfänger*innen, wenn man sie einem brutalen Zeitdruck aussetzt, um Kosten zu sparen. Man verunmöglicht damit das, was Sorge und Pflege ausmacht: Beziehung, Vertrauen, die Möglichkeit auf Unvorhersehbares einzugehen.

Sämtliche Sorgeeinrichtungen dürfen daher nicht länger nach betriebswirtschaftlichen, profitorientierten Maßstäben organisiert werden, sondern müssen sich an einer bedarfsgerechten Grundfinanzierung ausrichten. Konkrete Maßnahmen wären die Abschaffung der Fallpauschalen zur Krankenhausfinanzierung, eine verbindliche Erhöhung der Personalschlüssel in den Sorgeeinrichtungen und eine gleichzeitige Reduktion des Arbeitsvolumens der Arbeitenden, um sie nicht weiter durch Stress und Erschöpfung aus dem Beruf zu treiben und so den Pflegenotstand weiter zu verschärfen.

Dass eine solche Verschärfung bereits in vollem Gange ist, belegt eine Umfrage, die die Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin e. V. (DGIIN) im April unter Mitarbeiter*innen durchgeführt hat. Rund ein Drittel der Gesundheitsfachkräfte wollen in den kommenden zwölf Monaten ihren Job aufgeben, fast die Hälfte möchte ihre Arbeitszeit reduzieren. Von den befragten Gesundheitsfachkräften glauben 97 Prozent, dass sich der Pflegemangel nach der Coronapandemie noch verschlimmern werde. Fast alle unter ihnen (95 Prozent) arbeiten gerne an ihrem Arbeitsplatz, finden aber die Arbeitsbedingungen inakzeptabel. Und 100 Prozent der befragten Gesundheitsfachkräfte fordern eine nachhaltige Krankenhausreform mit Stärkung der Intensiv- und Notfallmedizin sowie bessere Arbeitsbedingungen. Zentral wäre zudem eine deutliche Erhöhung des Lohns der Beschäftigten. Im DGB-Index Gute Arbeit gaben im Jahr 2020 rund 53 Prozent der Beschäftigten in den Pflegeberufen an, Schwierigkeiten zu haben, mit ihrem Einkommen über die Runden zu kommen.

Bezahlte und unbezahlte Arbeit

Bei aller Skandalisierung der Zustände im bezahlten Sorgesektor darf zugleich nicht übersehen werden, dass ein großer Teil der Sorgearbeit nach wie vor unbezahlt im Privaten geleistet wird. Auch hier mangelt es an Zeit, weil die Erwerbsarbeit für viele Menschen die meisten Stunden des Tages beansprucht. Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, Jutta Allmendinger, fordert daher völlig zu Recht, die Vollerwerbsarbeitszeit auf 32 Stunden zu reduzieren - bei existenzsicherndem Lohn, versteht sich. Die Forderung könnte auch noch radikaler ausfallen: Bei einer Reduktion auf 25 Stunden würde immer noch die Hälfte des Tages der Erwerbsarbeit gehören. Die andere Hälfte entfiele auf die zeitintensive Sorge für sich, andere und die Mitgestaltung des politischen Gemeinwesens.

Wichtig wäre außerdem, denjenigen, die sich über längere oder kürzere Phasen ihres Lebens größtenteils oder vollständig um andere kümmern, eine soziale und finanzielle Absicherung zu gewährleisten. Damit diese Menschen - meist Frauen - nicht in toxische finanzielle Abhängigkeitsverhältnisse geraten, müsste ihnen keine Sozialhilfe, sondern ein existenzsicherndes Grundeinkommen zustehen, das zudem auch Rentenansprüche zulässt. Möchte man darüber hinaus ihre gesellschaftliche Isolation verhindern, sollte dringend am Aufbau von rechtsverbindlichen Sorgenetzwerken oder -gemeinschaften gearbeitet werden, auch jenseits von Kleinfamilie und biologischer Verwandtschaft.

Es mangelt also nicht an konkreten Ideen, um die Sorge-Krise und den Pflegenotstand effektiv zu beheben und sich außerdem auf mögliche künftige Pandemien besser vorzubereiten. Auch das Argument, die Vorschläge seien nicht finanzierbar ist leicht ausgeräumt: Immerhin sprechen wir von einem Tätigkeitsbereich, bei dem es unmittelbar um unsere Gesundheit, unser Wohlbefinden, um ein Aufwachsen und Altern in Würde und oft auch um die Rettung von Menschenleben geht. Es wäre mehr als bedenklich, wenn wir uns als Gesellschaft tatsächlich darauf einigten, dass uns das zu teuer sei. Zudem liegen seit Jahren konkrete Finanzierungsvorschläge auf dem Tisch, die lediglich auf Ausarbeitung und Umsetzung warten.

Konkreter Vorschlag: Care-Abgabe

Eine der interessantesten Ideen wurde bereits 2014 von Tove Soiland ins Spiel gebracht und 2019 von der Umweltwissenschaftlerin und Nachhaltigkeitsökonomin Anna Saave weiter ausgearbeitet. Es geht um die Einführung einer Care-Abgabe, die zu einer gesamtgesellschaftlichen, fiskalisch gesteuerten Umverteilung zwischen wertschöpfungsstarken Sektoren wie der IT-Branche, der Industrie, dem Banken- und Versicherungswesen auf der einen und dem wertschöpfungsschwachen Sorgesektor auf der anderen Seite führen soll. Warum wird eine Umverteilung zwischen diesen Sektoren zur Finanzierung besserer Sorgeverhältnisse vorgeschlagen?

Erstens weil der Sorgesektor seit Jahren durch seine Prekarität die wertschöpfungsstarken Sektoren indirekt subventioniert. Sämtliche Angestellte und Arbeiter*innen, die in Fabriken und Unternehmen mit der Verausgabung ihrer Arbeitskraft Profite erwirtschaften und für stetiges Wirtschaftswachstum sorgen, sind darauf angewiesen, ihre Arbeitskraft zu regenerieren. Je billiger diese Aufrechterhaltung und Reproduktion der Arbeitskraft vonstatten geht, desto geringer sind die Lohnkosten. Wenn also sorgende und pflegende Tätigkeiten, die zentral sind für die Herstellung und Regeneration der Arbeitskraft, schlecht oder gar nicht bezahlt werden, müssen sich Unternehmen nur minimal oder eben gar nicht an den Reproduktionskosten der Arbeitskraft beteiligen.

Zweitens ist die Arbeit im kapitalistisch organisierten Sorgesektor im Vergleich mit der Güterproduktion quasi mit einer Art Wettbewerbsverzerrung konfrontiert. Anders als in der Güterproduktion lassen sich die üblichen Rationalisierungsmaßnahmen zur Produktivitätssteigerung nur bedingt auf den Sorgesektor anwenden. Zwar wird damit experimentiert, auch hier Menschen durch Maschinen zu ersetzen, einzelne pflegerische Handlungen wie in der Fabrik in kleinteilige Einzeltätigkeiten zu zerlegen oder einfach insgesamt durch Arbeitszeitverdichtung für Beschleunigung zu sorgen. Der Produktivitätssteigerung sind hier dennoch andere Grenzen gesetzt, als im Bereich der Güterproduktion - eben weil man es mit Menschen und nicht mit Autoteilen zu tun hat. Folglich tritt ein, was die Ökonomin Mascha Madörin als Auseinanderdriften der Arbeitsproduktivitäten bezeichnet.

Die geringeren Rationalisierungsmöglichkeiten und begrenzten Produktivitätssteigerungen führen dazu, dass die Kosten im Sorgesektor im Vergleich zur anderen Sektoren stetig zu explodieren scheinen. Um sie dennoch niedrig zu halten, spart man am Personal und seinen Lohnkosten. Anna Saave formuliert daher in ihrer Ausarbeitung der Care-Abgabe: »Mit dem Eingriff der Care-Abgabe in den Prozess der auseinanderdriftenden Produktivitäten schöpft dieses wirtschaftspolitische Instrument Gewinne aus Produktivitätssteigerungen ab, verteilt diese um und löst so das Finanzierungsproblem von Care«. Sie hält die Abgabe für ein solidarisches Instrument, »im Sinne einer Solidarität, die über individuelle Betroffenheitslagen und zwischenmenschliche Involviertheit hinausgeht und auf einer gesellschaftsübergreifenden Umverteilung beruht«. Nachdem über ein Jahr lang im Namen des Infektionsschutzes lediglich an die Solidarität und Disziplin jedes Einzelnen appelliert wurde, ist es höchste Zeit, diese Solidarität gesamtgesellschaftlich zu realisieren und strukturell zu verankern. Bislang mangelt es diesbezüglich nicht an realisierbaren Vorschlägen, sondern allein am politischen Willen.