nd-aktuell.de / 10.06.2021 / Politik / Seite 2

Knappe Ressourcen

Grenzkonflikte in Zentralasien haben soziale Gründe

Cyrus Salimi-Asl

Es ging nur um etwas Wasser und eine Videokamera, dann fielen auf einmal Schüsse, und am Ende eines mehrtägigen Scharmützels waren Anfang Mai über 50 Menschen tot und mehr als 200 verletzt. Die Außenwelt wunderte sich, was da im Innersten Asiens geschah, und nahm mit Erschrecken die hohe Zahl der Getöteten zur Kenntnis: Da lieferten sich zwei Kleinststaaten aus der Konkursmasse der Sowjetunion, Kirgistan und Tadschikistan, einen blutigen Grenzkonflikt, mobilisierten ihre Soldaten, drohten mit Vergeltung und schossen scharf über die Grenze. Hier stößt das Gebiet Batken im äußersten Südwesten Kirgistans an die Provinz Sughd im Nordwesten Tadschikistans.

Was den Konflikt ausgelöst hat, ist mittlerweile klar: Als tadschikische Beamte sich daranmachten, eine Überwachungskamera an einer Wasserverteilstation anzubringen, die auf kirgisischem Territorium liegt, protestierten die dortigen kirgisischen Bewohner; das Wasser wird in dieser Gegend von beiden Ländern mehr oder weniger einvernehmlich genutzt. Immer wieder kam es in den vergangenen Jahrzehnten zu solchen Grenzscharmützeln; auch schon in den 80er Jahren, noch zu Sowjetzeiten, flammten Konflikte auf zwischen den Bevölkerungsgruppen. Eine internationale Grenze trennte Kirgisen und Tadschiken damals nicht, diese ist auch bis heute nur zu einem geringen Teil demarkiert.

Die Auseinandersetzungen haben ihre Ursachen in virulenten Streitigkeiten um den Zugang zu Ressourcen, in erster Linie Boden und Wasser. Hier, im fruchtbaren Ferganatal, eine dicht besiedelte Senke, eingefasst von den Hochgebirgsketten Tianshan und Alai, stoßen drei Staaten aufeinander: Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan. Ein Blick auf die Landkarte zeigt stark ineinander verschränkte Grenzen. Ihr Verlauf im Ferganatal ist das Gegenteil von am Reißbrett gezogenen scharfen Grenzlinien, wie sie die Kolonialmächte in verschiedenen Teilen der Welt hinterlassen haben. Länder wie Tadschikistan und Kirgistan hingegen scheinen das Werk eines Mikrochirurgen zu sein, der minimalinvasiv in naturgegebene Landschaften eingegriffen und eine filigrane Abgrenzung vorgenommen hat.

Der Künstler, der dieses topographische Werk erschaffen hat, war die junge Sowjetmacht. In den 1920er Jahren machte sich die junge Sowjetmacht daran, Zentralasien, das bereits durch das zaristische Russland ins Imperium eingegliedert worden war, neu zu ordnen - gemäß einer präzisen Ideologie: Mit ihrem anti-imperialistischem Anspruch wollte die Sowjetunion die Ungerechtigkeiten des zaristischen Russland ungeschehen machen und den »nationalen Aspirationen« der zahlreichen ethno-linguistischen Völkerschaften auf ihrem Territorium nachkommen. Dieser Anspruch mündete in die konkrete Politik der Korenisazija, zu Deutsch »Einwurzelung« oder »Verwurzelung«. Damit wollte die Sowjetmacht in den 20er Jahren nichtrussische Völker in den neuen sozialistischen Staat einbinden mittels Minderheitenförderung. Administrativ war die Korenisazija angesiedelt beim Volkskommissariat für Nationalitätenfragen, das von 1917 bis 1924 existierte; erster Volkskommissar wurde Stalin (bis 1923).

»Innerhalb des Territoriums der Sowjetunion wurden die Grenzen gezogen, um anerkannte Formen der nationalen Selbstbestimmung zu fördern und kulturelle Identitäten zu schaffen, die ›national in der Form, sozialistisch im Inhalt‹ sein sollten«, erklärt gegenüber »nd« Flora Roberts von der Universität Cardiff; sie ist spezialisiert auf die sowjetische Geschichte Zentralasiens. Dabei orientierte man sich vor allem an Sprachen und stopfte all die Menschen in eine Nation, die dasselbe Idiom benutzten, und ordnete ihnen ein Territorium zu. Schwierige Fälle wollte man durch Verleihung eines Autonomie-Status lösen.

Die heutigen Grenzen spiegeln die starke Vermischung der Bevölkerungsgruppen über das zentralasiatische Territorium wider, dies gilt insbesondere für das Ferganatal, und damit die ethno-linguistische Verteilung; mit dieser Maßgabe waren andere Grenzverläufe schlicht nicht möglich. Flora Roberts betont, dass die Grenzziehung kein selbstherrliches Projekt Moskaus oder gar Stalins allein war. »Der Prozess der nationalen Abgrenzung wurde auf lokaler Ebene ausgehandelt und stieß dort oft auf heftigen Widerstand, wobei lokale zentralasiatische Mitglieder der Kommunistischen Partei stark involviert waren.«

Diesem Urteil folgt auch Andrea Schmitz vom Berliner Thinktank »Stiftung Wissenschaft und Politik« (SWP): »Die Ausgestaltung dieses Systems, also die territoriale Zuteilung von Landstrichen und die Grenzverläufe, wurde zwischen Moskau und den einheimischen Eliten, also usbekischen, kirgisischen, tadschikischen Parteikadern, ausgehandelt.« Es wäre also zu einfach, (allein) der Moskauer Zentrale die Verantwortung zuzuschieben für die heutigen Konflikte. Flora Roberts kann in der Grenzziehung in Zentralasien nicht mal eine große Besonderheit erkennen und verweist auf die »außerordentlich verschlungene Grenze zwischen Belgien und den Niederlanden«, die in der Gegenwart keinerlei Probleme schaffe. »Der Zustand der Grenzen im Ferganatal ist im Vergleich zu Europa weder exotisch noch abwegig.« Ohnehin sehen viele Zentralasien-Experten den Grund für die Auseinandersetzungen nicht in den Grenzen an sich, sondern im Streit um die begrenzten Ressourcen Wasser und Ackerland.

Tim Epkenhans, Professor für Islamwissenschaft an der Universität Freiburg und bis 2009 Direktor der OSZE-Akademie in Bischkek, verortet die Ursache in der sozialen Notlage der Menschen im Ferganatal und der Perspektivlosigkeit vor allem junger Männer zwischen 25 und 40 Jahren. Zentral seien die Einschränkungen der Arbeitsmigration aus Zentralasien, vor allem nach Russland, durch die Covid-19-Pandemie. »Beide Gesellschaften, Kirgistan und Tadschikistan, sind sehr stark von der Rücküberweisung von Geld durch Arbeitsmigranten abhängig, also den sogenannten Remittances.« Schätzungen gingen für Tadschikistan von bis zu 1,3 Millionen saisonalen und permanenten Arbeitsmigranten aus, für Kirgistan etwa 800 000. »Das war immer ein ganz, ganz wichtiges soziales Ventil«, so Epkenhans, und sei nun weggefallen.

Er ist sich sicher: »Das ist kein Konflikt, den sie in Moskau, Bischkek oder Duschanbe lösen können, den müssen sie vor Ort in den kleinen Dörfern lösen und die Leute zusammenbringen.« Epkenhans schwebt ein runder Tisch vor, an dem man die Probleme bespricht und so den Zündstoff entschärft, auch unter Beteiligung externer Vermittler.