»Es bedeutete für jeden, mit allem zu brechen«

Berlinale Perspektive Deutsches Kino: »In Bewegung bleiben« - Salar Ghazi erzählt von Tänzern der Komischen Oper Ende der 80er. Ein Gespräch

  • Inga Dreyer
  • Lesedauer: 4 Min.

Herr Ghazi, ein Aufhänger Ihres Films ist das 1988 uraufgeführte Tanzstück »Keith« der Choreografin Birgit Scherzer - warum?

Mit dem Film schließt sich ein Kreis. Vor 35 Jahren ging ich mit einem Freund in einen Kölner Plattenladen. Wir waren auf Klassenfahrt und hatten uns davongestohlen, weil uns damals das Römisch-Germanische Museum nicht interessierte. Er schlug mir das »Köln Concert« von Keith Jarrett vor. Ich stand auf Progressive Rock und sagte: »Bist du bescheuert? Eine Stunde Klavier, das muss stinklangweilig sein.« Nachdem ich die Platte gehört hatte, bekam ich erst am Folgetag die Kinnlade wieder hoch und wurde Fan. Für mich ging dadurch eine neue Welt auf.

Interview

Salar Ghazi ist 1964 in Hamburg geboren. Nach dem Abitur in Bonn wurde er autodidaktisch Filmeditor und ist mittlerweile seit circa 30 Jahren in diesem Bereich tätig. Mit ihm sprach Inga Dreyer.

Und wie lernten Sie die Tänzer*innen kennen?

Wieder eine Klassenfahrt. Ein anderer Freund, Klaus, war 1987 in Ost-Berlin. Er suchte nach Ost-Verwandtschaft und damit nach einem Telefonbuch. Er sprach Birgit Scherzer einfach auf der Friedrichstraße an. Beide blieben in Kontakt. Ein Jahr später zog ich nach West-Berlin. Als Klaus zu Besuch kam, nahm er mich mit zu Birgit. Er sagte, dass er interessante Leute kennengelernt hätte: Tänzer von der Komischen Oper. Birgit berichtet beim Treffen von der anstehenden Premiere von »Keith«, zu der Musik vom »Köln Concert«. Ich gestand ihr, dass ich seit Jahren nichts anderes hörte. Ich kam zur Premiere, und wir freundeten uns an.

Was hat Sie daran gereizt, die Bekannten von damals zu porträtieren?

Natürlich sind mir die Begegnungen aus der Zeit im Kopf geblieben. Mich hat beschäftigt, dass die ganzen Dramen, die sich damals abgespielt hatten, im November 1989 obsolet geworden sind. Die Karten wurden völlig neu gemischt. Mich hat interessiert, dass es sich um Reisekader handelte. Um Menschen, die sich den Westen vorher anschauen und sich ein Urteil bilden konnten. Auch, weil das Tänzerleben mit Mitte 30 zu Ende ist, mussten sie sich früh die Frage stellen: Gehe ich in den Westen, oder bleibe ich? Obwohl ich aus dem Westen komme, habe ich gemerkt, dass die DDR-Zeit und der Mauerfall zu scherenschnittartig erzählt wurden. Ich wollte nicht mit einem vorgefassten Konzept an den Film gehen, sondern meine eigene Neugierde befriedigen.

Was hing für die Tänzer*innen an der Entscheidung, in den Westen zu gehen?

Es bedeutete für jeden, mit allem zu brechen. Man verließ seine Familie und konnte jahrelang nicht zurück. Birgit sagt im Film: »Im Westen war es ganz normal, irgendwohin zu gehen. Aber für uns war das eine Lebensentscheidung.« Das habe ich damals nicht nachempfinden können. Ich bin aus dem langweiligen Bonn nach Berlin gezogen, war dabei, die große Stadt einzuatmen und konnte nicht verstehen, was es bedeutet, nicht sagen zu können: Wenn es mir nicht gefällt, gehe ich in zwei Wochen zurück.

Ihre Protagonist*innen zeichnen ein vielschichtiges Bild der DDR. Ist das auch dem Zeitpunkt der Interviews geschuldet?

Gedreht habe ich von Ende 2007 bis Ende 2009. Ich habe glücklicherweise einen hervorragenden Zeitpunkt zum Drehen erwischt, nah genug am Mauerfall, um reflektieren zu können. Inzwischen ist vieles von den Erinnerungen vom Westalltag überlagert worden.

Wie war es, so lange an einem Film zu arbeiten? Hatten Sie manchmal Zweifel?

Absolut. Es waren zwölf Jahre, aber die tatsächliche Arbeitszeit lässt sich auf zwei Jahre herunterbrechen, in zwei Abschnitten: Dreh auf zwei Kontinenten, Transkription, Schnitt, Tonmischung. Dazu der Brotjob als Editor und Arbeit an anderen Low-Budget-Filmen. Im Dezember 2019 zeichnete sich ab, dass ich endlich Zeit für den Schnitt haben würde. Corona war da noch ein Bier, Masken in einer Bank lösten Alarm aus. »In Bewegung bleiben« war nie aus dem Sinn gewesen. Die 130 Stunden Rohmaterial zogen auf immer leistungsfähigere Rechner um, die Aktenordner der Interviews warteten im Regal. Das Material hatte sich über die Jahre unterbewusst im Hinterkopf sortiert. Deshalb ließ der Film sich dann fast wie Butter schneiden. Bei Fernsehreportagen ist man darauf getrimmt, alles zuzuspitzen und von einer These auszugehen. Aber ich hatte keine Filmförderung und war frei zu sagen: Ich mache das, was mich interessiert. Doch es gab genug Momente, in denen ich dachte, »Wozu die Arbeit, das interessiert kein Schwein! Lass dir die Sonne auf die Plauze scheinen, und deine Freundin sieht dich auch mal.«

Haben Sie noch andere Projekte in der Schublade?

Ich habe nicht damit gerechnet, bei der Berlinale zu landen. Das ist eine Bestätigung dafür, dass die letzten 30 Jahre einen Sinn haben. Ich hätte sonst aufgehört, nebenher Filme zu machen. Jetzt beginnt der nächste im Oktober. Es wird wieder ein No-Budget-Dokumentarfilm. Ich mache Dokumentationen lieber auf eigene Kappe, denn das Filmförderwesen unterbindet die Freiheit, »nur« mit einer Idee im Gepäck loszuziehen. Mir ging es nie darum, damit Geld zu verdienen. Beim nächsten Film werden es zwei Jahre und nicht zwölf. Naja, vielleicht auch drei.

»In Bewegung bleiben«: Deutschland 2021.

Regie: Salar Ghazi. Termine: 12.6., 21.45 Uhr,

Freiluftkino Hasenheide; 17.6., 21.45 Uhr, Freiluftkino Friedrichshagen.

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