nd-aktuell.de / 12.06.2021 / Kultur / Seite 11

Die heilige Marilyn

Über den Tod und das Sterben haben Irvin D. Yalom und Marilyn Yalom zusammen ein Buch geschrieben. Sie starb 2019, er wird am Sonntag 90 Jahre alt.

Mira Landwehr

Familienfotos sind manchmal etwas peinlich. Die Familie Yalom macht hier keine Ausnahme. Kurz vor Irvin D. Yaloms 90. Geburtstag am 13. Juni ist unter dem Titel »Unzertrennlich« das erste und einzige gemeinsam verfasste Buch von ihm und seiner Frau Marilyn erschienen.

Die Kulturwissenschaftlerin und Feministin war es, die ihrem Mann, dem Psychoanalytiker und späterem Schriftsteller, die Verbindung von Psychotherapie und Philosophie eröffnete und damit zur Begründung der Existenziellen Psychotherapie wesentlich beigetragen hat.

Das Buch beginnt mit einer Reihe privater Aufnahmen von Familienfeiern, die einen fröhlichen, harmonischen Eindruck vermitteln. Außerhalb des Familienalbums wirken sie seltsam fehl am Platz. Angemessen wirkt hingegen das letzte Bild des Paares, auf dem lediglich ihre Hände zu sehen sind, die einander halten.

Der Text fängt mit einem Schock an: Die 87-jährige Marilyn erleidet einen Schlaganfall und kommt sofort in die Notaufnahme. Zum Glück war es ein leichter Anfall ohne bleibende Schäden. Doch ausgelöst wurde er vermutlich von einem Medikament mit starken Nebenwirkungen, das sie wegen eines Multiplen Myeloms einnimmt, an dem sie sterben wird. Vier Tage später bekommt Irv, wie Marilyn ihn nennt, in einer Notfalloperation einen Herzschrittmacher implantiert. »Ich bin wie betäubt von der Zerbrechlichkeit meines Daseins«, kommentiert er, der damals 88 Jahre alt war.

Marilyn hatte beschlossen, dass sie zusammen ein Buch schreiben müssten - über den Tod, das Sterben, ihre Ängste, ihre Vergangenheit und die kurze Zukunft, die sie noch gemeinsam zu erwarten hätten. In der ersten Hälfte von »Unzertrennlich« wechseln sie sich kapitelweise ab, doch dann muss Irv nach Marilyns ärztlich begleitetem Suizid 2019 das Buch allein beenden. Sie erzählen die Geschichte einer großen Liebe, einer lang andauernden Liebe, 65 Ehejahre, vier Kinder, einige Enkel- und Urenkelkinder. Das Werk wird vielen Leser*innen Trost spenden - und der Lesefluss pausiert gelegentlich, weil die gegenseitige Fürsorge dieser beiden so eng verbundenen Menschen berührt.

Was bedeutet es, wenn ein Partner, eine Partnerin geht? »Ein großer Teil meiner Vergangenheit (wird) mit ihr sterben«, schreibt Irv, denn Marilyn sei sein Gedächtnis. Irvs nachlassende Gedächtnisleistung bringt ihn schließlich zu dem Entschluss, seinen geliebten Beruf aufzugeben. In einem Kapitel beschäftigt sich der Witwer mit Sexualität und Trauer. In einem Fachartikel liest er: »Wenn Menschen taub vor Schmerz sind, kann Sex ihnen dabei helfen, wenigstens irgendetwas zu spüren. Wenn die Bewältigung des Todes Teil des täglichen Lebens ist, stellt dies auch etwas Lebensbejahendes dar.« Viele Trauernde schämen sich für solche Emotionen, obwohl sie verbreiteter sind als allgemein angenommen. Denn »sexuelles Verlangen« spiele offenbar »eine signifikante Rolle im Trauerprozess«. Tabus aufzulösen gehört zur Arbeit des Therapeuten und ist Teil der Heilung.

Was irritiert, ist die durchgängige Idealisierung Marilyns. »Sie war immer hervorragend, egal wo, egal bei was.« Sie sei »absolut immer freundlich und großzügig« zu den Kindern gewesen, es habe »keine einzige negative Interaktion zwischen ihr« und irgendjemand sonst gegeben. Es erstaunt, dass dem ausgebildeten Psychoanalytiker diese Verklärung zur Heiligen nicht selbst auffällt.

In dem Dokumentarfilm »Yaloms Anleitung zum Glücklichsein« von Sabine Gisiger (2014) betonten die Eltern, dass ihre Paarbeziehung für sie immer an erster Stelle kam und dies zu akzeptieren, für ihre Kinder mitunter schwer gewesen sei. Ben, der jüngste und etwas »schwierige« und »laute« Sohn, habe von seiner Mutter oft gesagt bekommen: »Kinder sollte man sehen, aber nicht hören.«

Die Beziehung der Yaloms war gewiss außergewöhnlich - auf Augenhöhe, sich gegenseitig intellektuell bereichernd, auch die Frau beruflich engagiert und sehr erfolgreich - Marilyn war Senior Scholar am Clayman Institute for Gender Research an der Stanford University. 2017 erschien Marilyns Kulturgeschichte westlicher Frauenfreundschaften erstmals auf Deutsch. Sie selbst hatte Glück: Ihre Ehe bedeutete nicht das »Begräbnis von Freundschaften«, das sie und ihre Co-Autorin Theresa Donovan Brown durch viele Jahrhunderte für viele weibliche Biografien konstatieren müssen.

Zu recherchieren und zu verfassen bleibt die Kulturgeschichte weiblicher Freundschaft und Solidarität in nichtwestlichen Ländern - und in den indigenen Gesellschaften der Amerikas. Die Geschichte Nordamerikas fängt für die Autorinnen erstaunlicherweise spät an. »In der neuen Welt wurden Frauengruppen zu Eckpfeilern der amerikanischen Gesellschaft.« Sie kommen letztlich nicht aus ihrer privilegierten Hood heraus, auch wenn sie Arbeiterinnen und Women of Color einige Betrachtungen widmen. Die »liebende Freundschaft«, die viele Beziehungen zwischen Frauen auszeichne, dürfte hingegen universell sein.

Freundschaftlich und wertschätzend Liebende waren Marilyn und Irv Yalom. Der automatische Drang Irvs, Erlebnisse mit der Verstorbenen zu teilen, wird wahrscheinlich lange präsent bleiben. »Als wäre es notwendig, dass Marilyn davon weiß, damit es wirklich real wird.«

Irvin D. Yalom und Marilyn Yalom: Unzertrennlich. Über den Tod und das Leben. A. d.amerik. Engl. v. Regina Kammerer. btb, 320 S., geb., 22 €; Marilyn Yalom und Theresa Donovan Brown: Freundinnen. Eine Kulturgeschichte. A. d. amerik. Engl. v. Liselotte Prugger. btb 418 S., brosch., 12 €.