nd-aktuell.de / 12.06.2021 / Kultur / Seite 11

Saison der Street Harasser

Jeja nervt

Jeja Klein

Wie schön: Die Sonne scheint, die Temperaturen klettern, die Pullis bleiben in der Kommode, die Männer auf der Straße benehmen sich normal komplett daneben, am Wochenende geht’s zum See. Man könnte fast die Uhr danach stellen: Jedes Jahr, wenn erste Freuden über Frühlingstemperaturen und Sommersonne aufkommen, wird der Aufenthalt im öffentlichen Raum für viele, vor allem jüngere Frauen zum Spießrutenlauf. Grund ist, dass der Ort, den Frauen zumeist als Transitraum zwischen A und B begreifen - Straßen, Plätze und U-Bahnhöfe - für einen Teil der männlichen Bevölkerung ein Jagdgebiet darstellt.

Es ist wieder die Zeit, in der ältere Männer in großen Autos plötzlich mitten auf der Hauptstraße eine halbe Vollbremsung einlegen, um hämisch und erregt grinsend zu erwarten, dass man jetzt vor ihnen die Straße quert - unter genauester Beobachtung aus ihren sexgierigen Glubschern, versteht sich. Beim Umstieg am Alexanderplatz passt ein junger Mann meinen Weg in der Menge ab, platziert sich »scheinbar zufällig« auf einem Treppenaufgang vor mir und nimmt freudig grinsend seine Maske ab. Ein alter Mann auf der Straße starrt mich an. Als wir aneinander vorbeigehen, sehe ich, wie er stehen bleibt, sich umdreht und mir noch eine Weile schamlos hinterherglotzt. Ich bin ohnmächtig angesichts dieses alltäglichen, permanenten, sexuellen Straßenterrors - und diese Ohnmacht ist es, was diese Männer erregt.

Ich habe so viele Jahre herumgegrübelt, mich nach dem »Warum« gefragt. Und ich habe versucht, das Phänomen mit geschlechtertheoretischer, feministisch-psychologischer Literatur zu begreifen. Viel mehr kann man auch nicht tun. Das Gefühl der eigenen Ohnmacht bleibt, selbst wenn man dem jeweils 400. Typen in einem unwahrscheinlichen Anfall von »Jetzt reicht’s!« dafür die Fresse poliert. Und die Gefühle der anderen Seite? Welche verschaffen sich die Täter dieser alltäglichen tausend kleinen Nadelstiche des Patriarchats? Es sind Gefühle der Großartigkeit, Gefühle der eigenen sexuellen Vormachtstellung auf diesem Planeten.

Man kann es bereits bei Jungs beobachten: Im Umgang mit Mädchen testen sie aus, wie weit sich sexuelle Intentionen ihnen gegenüber zur Schau stellen und zwangvoll durchsetzen lassen, ohne dass die sich zur Wehr setzen. Das Lachen, das Freudestrahlen im Gesicht dieser Jungs ist das für sie unfassbare, ein Leben lang unfassbare Glück der Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht mit seinem Vorrecht der Straffreiheit. Sie spüren: Sie sind diejenigen, die ficken, nicht die, die gefickt werden - und zwar im eigentlichen wie in der ganzen Tiefe des übertragenen Sinnes, in so vielerlei Hinsicht. Sie stehen über Mädchen und Frauen. Das zeigt sich für sie alleine schon daran, dass sie feindliche und sexuell aufgeladene Handlungen an und gegen Mädchen und Frauen richten können - ohne dass die sich wehren, ohne dass Eltern, Lehrer*innen eingreifen und ihnen zur Hilfe kommen. Boys will be boys.

Es ist ein fasziniertes lebenslanges Austesten: Merkt das andere Geschlecht wirklich nicht, wie viel Lust an Zwang und Gewalt in der Aufmerksamkeit für ihre Körper steckt? Wehren sie sich wirklich nicht? Wie viel lässt sich mit ihnen machen, konsequenzenlos? Wie dumm sind die eigentlich? Es ist ein ständiges verzücktes Verschieben und Austesten der Grenzen des anderen Geschlechts. Die Betroffenen dieser Taten: austauschbar. Denn auch das steckt in dieser Form der Belästigung: dass Mädchen und Frauen nie für sich selber stehen, sondern immer nur als Repräsentantinnen ihrer Klasse. Die Behandlung, die ihnen zukommt, gilt ihrem Körper, ihrem Geschlecht.

Beim Street Harassment (sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum) geht es entsprechend auch nicht um das Kennenlernen oder »Ansprechen« von Frauen auf der Straße. Es geht um eine Versicherung, der - logisch - eine Verunsicherung zugrunde liegen muss: die Angst vor weiblicher Macht, die darin wurzelt, dass diese Männer vertrackterweise ausgerechnet auf Frauenkörper angewiesen sind, um großartig zu sein.