nd-aktuell.de / 19.06.2021 / Kultur / Seite 40

Fräulein Hirschberg und dos Kelbl

Andrea Behnke erzählt von vier jüdischen Kindern in Nazideutschland

Deutschland 1938: Liselotte, Leon, Minna und Hildegard sind eng befreundet. Nichts kann die Verknöpften, die mit Freundschafts-Armbändern verbunden sind, trennen. Doch in der Zeit vor dem Krieg ist nichts, wie es war. Von Woche zu Woche verändert sich das Leben von Liselotte und den anderen immer mehr. Hildegard, die als Einzige nicht die jüdische Schule besucht, darf ihre beiden Freundinnen und ihren Freund nicht mehr treffen. Nach einer dunklen Novembernacht ist sogar die Schule geschlossen. Und Liselotte hört von einem Schiff, mit dem Minna und ihre Eltern wegfahren … Nur die beliebte und engagierte Lehrerin Fräulein Hirschberg ist ein Anker in diesen dunklen Zeiten. Was hält Freundschaft aus? Wie viel kann das Freundschafts-Armband mit dem schönen Knopf zusammenhalten? Eine berührende Geschichte aus der Vergangenheit. Mit zarten Illustrationen der israelischen Künstlerin Inbal Leitner, die die Geschichte einfühlsam begleiten.

Ghetto Riga 1942

Ilse Hirschberg sucht Kräuter. Mit den Fingernägeln knipst sie Brennnesseln und Löwenzahn ab. Gleich wird sie Tee kochen und in das Krankenzimmer gehen. Sie wird den schwachen Menschen Tee geben. Kleine Schlückchen, mehr vertragen sie nicht. Das erste wärmende Getränk seit Tagen, das sie bekommen werden.

Ein Tag hier ist länger als ein Leben, denkt Ilse Hirschberg. Länger als ihr früheres Leben als Lehrerin. Es wäre leichter, sich einfach hinzulegen und nichts zu tun. Doch Ilse Hirschberg will sich nicht hinlegen. Sie will nicht einschlafen. Bloß nicht einschlafen. Sie will helfen. Auch hier bringt sie Kindern etwas bei, wie früher in der Schule, ein wenig Rechnen, ein wenig Deutsch. Manchmal heimlich. Die Kinder sollen sich wie Kinder fühlen, in dieser neuen Stadt. Eine Stadt, die normal sein soll, und in der jeder spürt, dass hier gar nichts normal ist. Was sollte auch normal sein an kleinen Zweizimmerwohnungen, in denen sechzehn Menschen leben? Was sollte normal sein an einem Ort, an dem man eingesperrt ist?

Immer wieder schreibt Ilse Hirschberg etwas auf. Eigentlich dürfte sie keinen Füller haben. Daher hat sie, als die Männer kamen, um ihnen die Stifte und den Schmuck abzunehmen, ihren Füller schnell in den Rockbund gesteckt. Dort haben die Männer nicht nachgeschaut, an dem Tag, an dem sie hier mit vielen, vielen Menschen ankam. Frauen, Männer und Kinder. Wenige Kinder kennt Ilse Hirschberg sogar noch aus ihrer kleinen Schule in Bochum. Wenn sie die Kinder sieht, bilden sich kleine Seen in ihren Augen. Aber Ilse Hirschberg verbietet es sich, zu weinen. In den letzten Jahren hat sie gelernt, die Tränen zurückzudrängen. Bei den ersten Anzeichen schließt sie die Augen und schluckt ein paar Mal kräftig. So verschwinden die kleinen Seen wieder.

In ihrem Kopf sind ganz viele Tränen, die Ilse Hirschberg nicht rauslässt. Denn jede Träne würde Hoffnung wegspülen. Und sie möchte hoffen, für sich und vor allem für die Kinder. Ein leises Lächeln überzieht Ilse Hirschbergs Gesicht. Die Kinder. Sie weiß genau, dass die

Schulkinder über sie gesagt haben, sie sei so klein, dass sie in den Ranzen passt. Natürlich haben sie das nur geflüstert, Liselotte, Minna, Leon und die anderen … Doch als Lehrerin hat man nicht nur zwei Ohren, sondern mindestens vier.

In der Ferne erklingt ein Lied. Ohne es zu merken, summt Ilse Hirschberg mit. Dos Kelbl - ein Lied über ein Kälbchen. Ein Kälbchen, das mit einem Strick angebunden ist. Und am Himmel fliegt ein Vogel davon

Bochum September 1938

»Was hast du denn da?« Minna berührt mit einem Finger Leons Wange. Dort ist eine Kruste, die noch ganz frisch aussieht. »Au, lass das!« Leon hält sich die Backe und tritt Minna vors Schienbein. Die nimmt ihn daraufhin in den Schwitzkasten. »Na, na, na.« Fräulein Hirschberg, die gerade den Klassenraum betreten hat, schiebt sich zwischen die beiden. »Das kriegst du zurück«, zischt Minna.

Fräulein Hirschberg packt Minna an der Schulter. Kraft hat sie, obwohl sie kaum größer ist als das Mädchen. »Jetzt wollen wir erst mal ein bisschen rechnen.« Sie schüttelt den Kopf. »Ihr seid schließlich keine Ringkämpfer.« Minna knurrt wie ein Hund und trottet zu ihrem Platz.

»Was war denn?«, fragt Liselotte, die neben ihr sitzt. Obwohl sie flüstert, hört Fräulein Hirschberg sie. Sie nimmt ihren dünnen Stock und schlägt leicht gegen die Kante des Pultes. Liselotte zuckt zusammen. »Ich möchte endlich anfangen. Was ist denn heute nur los mit euch?« Sie fährt sich einmal durch die kurzen Haare, so dass sie an der Seite abstehen. Minna kichert. »Heute ist der Lockenzwerg gut gelaunt, was?« Fräulein Hirschberg wirft den beiden Mädchen einen strengen Blick zu. »Pscht«, macht Liselotte und guckt nach vorne. Sie kaut an ihrem Stift.

In der Pause hält Fräulein Hirschberg Leon zurück, der von einem Bein aufs andere tritt. »Du Zappel.« Liselotte sieht, wie Fräulein Hirschbergs Augen hinter den runden dicken Brillengläsern lächeln. Betont langsam packt Liselotte ihre Sachen ein, um auf Leon zu warten. Und um ein wenig zu lauschen. »Was ist da passiert?« Fräulein Hirschberg zeigt auf Leons Wange. Ihre Stimme ist so weich wie ein Stück Butterkuchen. Leon fährt vorsichtig mit dem Zeigefinger über die blutige Kruste und verzieht sein Gesicht. »Tut das so weh?« Er schüttelt den Kopf. »Es ist alles gut«, brummt er. »Kann ich in den Pausenhof gehen?« Fräulein Hirschberg nickt. »Und wenn etwas ist, gibst du mir Bescheid, ja?« Sie versucht, Leons Blick zu erhaschen. »Du musst es mir versprechen.« »Ja, Fräulein Hirschberg.« Er schnappt sich seine Jacke.

»Warte!« Liselotte huscht hinter Leon her. Vom Hof aus sieht sie, wie Fräulein Hirschberg am Fenster steht. Sie kommt ihr hinter der Scheibe noch kleiner vor. Und so nachdenklich. »He!« Minna pikst Liselotte in den Po. »Bist du festgewachsen?« Sie saust davon. Liselotte läuft ihr nach. »Ich krieg dich«, ruft sie. Leon stellt sich den beiden in den Weg. »Ich hab euch schon.« Er breitet seine Arme aus. Liselotte steht ganz nah vor ihm. »Jetzt sag mal, was du da gemacht hast, im Gesicht.«

»Lasst mich endlich damit in Ruhe!« Leon lässt die Mädchen stehen und geht zu den anderen Jungs.

***

Auf dem Heimweg hüpft Minna neben Liselotte und Leon her. Leon ist noch immer ein bisschen grummelig. »Tadaa!« Minna zieht ein Stück Kreide aus dem Lederranzen. Flink zeichnet sie Hüpfkästchen auf den Bürgersteig. Liselotte sucht einen Kieselstein zum Werfen. »Zur Steigerung der allgemeinen Laune.«

»Och nöö«, nörgelt Leon. »Ich hab keine Lust.«

»Jeder wenigstens einmal«, sagt Liselotte und reicht Leon einen Stein. »Kannst auch anfangen.«

Lustlos wirft Leon den Stein in ein Kästchen und springt los. Als Leon mit beiden Füßen im Feld neun, direkt vor Himmel und Hölle, aufkommt, ruft Minna: »Na los! Einen großen Sprung noch!« Doch Leon setzt sich hin, mitten auf die Hüpfkästchen. »Mach weiter«, sagt Liselotte und stupst ihn mit dem Fuß an.

»Ich darf mich hier ausruhen«, sagt Leon. »In die Hölle sollen andere.«

Liselotte zieht die Augenbrauen hoch. Minna fängt an, Leon zu kitzeln. Leon windet sich und prustet los. Mit einem Ächzen steht er wieder auf, hüpft weiter und landet neben dem Feld. »Raus!« Minna sammelt den Stein wieder ein. »Ein Glück«, sagt Leon. »Ich gehe schon mal nach Hause. Oma wartet.«

Leon wohnt bei seiner Oma, die schon ziemlich alt ist. Seine Eltern leben nicht mehr. Liselotte setzt ihren Ranzen ab und fängt an zu springen. Sie winkt Leon, der davonschlurft, nach. Kurz darauf sieht sie, dass Leon ein Stückchen weiter auf dem Bordstein sitzt. Dort wartet er so lange, bis Liselotte und Minna keine Lust mehr auf Hüpfkästchen haben und ihn einholen. Minna biegt als Erste ab. Liselotte und Leon gehen noch ein Stück gemeinsam weiter. Je näher Leon dem Mietshaus kommt, in dem seine Oma eine kleine Wohnung hat, desto stiller und langsamer wird er. »Irgendwie bist du merkwürdig«, sagt Liselotte und schaut ihren Freund von der Seite an. Leon bleibt stehen und holt tief Luft. »Würden Oma und ich nicht hier wohnen, würde ich diese Straße niemals lang laufen«, sagt er und macht eine kurze Pause. »Überall gibt es Häuser mit solchen Einfahrten, in die man nicht sofort reingucken kann.«

Liselotte zieht die Stirn kraus. Ehe sie weiter nachbohren kann, greift Leon ihre Hand und rennt mit ihr los. An einem Haus vorbei, an dem nächsten. Die Ranzen schlackern auf ihren Rücken hin und her. Liselottes Schuhe sind inzwischen zu eng geworden, sie drücken bei jedem Schritt. Trotzdem rennt sie mit Leon weiter. Noch zwei Häuser, dann ist Leon zu Hause. Der Eingang mit den beiden Stufen ist schon zu sehen. Liselotte bildet sich ein, den Tscholent zu riechen. Der Tscholent-Eintopf für Schabbat muss einen ganzen Tag lang köcheln. Leons Magen knurrt laut. »Oma hat versprochen, heute Mittag Latkes zu machen«, sagt er, völlig außer Puste.

Gerade als Liselotte sich den Geschmack der Kartoffelpuffer vorstellt, Latkes mit Zucker und saurer Sahne, schnellt aus den Büschen ein Hockeyschläger hervor und kracht gegen Leons Oberschenkel. Leon krümmt sich vornüber. Als er wieder hochguckt, blickt er in ein Paar stahlgraue Augen. Die Augen eines Jungen aus der Nachbarschaft. Hinter ihm taucht mit einem hämischen Grinsen ein weiterer Junge auf. »Da ist er ja wieder, der kleine Jude.« Die Jungs beachten Liselotte gar nicht, sie scheint Luft für sie zu sein. Der Größere der beiden fährt mit dem Hockeyschläger über Leons Wange, da, wo die Wunde von gestern ist. Leon wimmert. Er merkt, wie sich die Kruste löst. »Lass mich durch«, bittet er leise. Seine Knie schlottern.

»Was will der kleine Jude?«

Liselotte möchte laut schreien. Doch sie kann nicht. Beim Hüpfkästchen-Springen kitzelte das Lachen noch im Hals, jetzt ist ihr, als ob dort der Kieselstein steckt. Kein Wort bringt sie heraus. Sie steht da, als wären ihre engen Schuhe im Bürgersteig verwurzelt. Sie kann sich nicht mehr bewegen.

»Der kleine Jude will durch. Alle kleinen Juden wollen immer irgendwas.« Der zweite Junge lacht, so dass man seine gelben Zähne sieht. »Wir werden euch schon zeigen, wer hier was wollen darf und wer nicht.« Er schubst Leon so heftig, dass Leon strauchelt und auf den Asphalt stürzt. Seine Hose reißt auf, langsam sickert Blut in den hellgrünen Stoff. Das Knie tut noch mehr weh als die Oberschenkel. Der größere Junge macht einen Schritt auf Liselotte zu: »Du sagst nichts, verstehst du. Nichts sagst du.« Er fuchtelt ihr mit dem erhobenen Zeigefinger vor dem Gesicht herum. »Und jetzt haut ab. Ich hab genug von euch.« Daraufhin verschwinden die beiden so schnell, wie sie gekommen sind.

Langsam spürt Liselotte wieder Leben in ihren Füßen, sie kann sie wieder vom Boden heben. Sie hilft Leon hoch und stützt ihn. Ohne sich noch einmal umzudrehen, geht sie mit ihm zum Haus seiner Oma. Am liebsten würde sie rennen, aber Leon kann nur noch humpeln. An der Haustür klingelt Liselotte Sturm, aus Angst, die Jungen könnten immer noch hinter ihnen sein. Als könne Leon Gedanken lesen, flüstert er: »Die beiden sind immer hinter mir her, selbst wenn sie gar nicht da sind.« Nachdem die schwere Holztür ins Schloss gefallen ist, atmet Liselotte tief durch. Sie riecht die Latkes, aber sie hat keinen Appetit mehr. Ihr Bauch tut weh, als hätte sie selbst einen der Schläge abbekommen.

Andrea Behnke
Die Verknöpften[1]
Mit Illustrationen von Inbal Leitner
Ariella Verlag
160 S., geb., 14,95 €
Für Kinder ab 10 Jahren

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/shop/article/1462171