nd-aktuell.de / 19.06.2021 / Kultur / Seite 38

Das magische Duo kriegt die Kurve

Zwei Dreizehnjährige stellen sich gegen die Hackordnung

Luke sitzt in der Patsche. Seine Mutter liegt im Wachkoma, seinem Vater entgleiten die Dinge, seine Schwester ist mitten in der Pubertät und auch nicht wirklich zu gebrauchen. Das Gymnasium hat Luke geschmissen, weil alles keinen Sinn mehr zu ergeben schien. Jetzt soll Luke in einer neuen Schule von vorne anfangen, aber auch hier fühlt er sich reichlich fehl am Platz. Doch Ali, ein Außenseiter, freundet sich mit ihm an. Auch wenn die beiden sehr unterschiedlich sind, fühlen sie sich einander verbunden und entwickeln sich schließlich zu einem »magischen Duo«: zwei Superhelden gegen den Rest der Welt. Einfühlsam und mit einer großen Portion Humor schreibt Thomas Hartl über die Verwicklungen eines 13-jährigen Teenagers, die Wechselfälle des Lebens, die Kraft der Freundschaft und den Mut, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.

Ich radle los und nach ein paar Minuten sehe ich schon Kathi an der Laterne stehen, an der ich mein Rad immer anhänge. Es ist erst der vierte Schultag und schon kommt Alltag rein. Frühstück, aufs Rad, mit Kathi zu Fuß durchs Schultor, morgendlicher Trubel. Ali hetzt wieder irgendwas hinterher und die anderen haben ihren Spaß. Als Kathi und ich an ihnen vorbeigehen, kommt doch was Neues: »Hey Psycho!«, schreit Gerri, und der Rest der Bande johlt: »Psycho, Psycho!«

Ich ignoriere sie, mich stört das nicht. Ein Spitzname ist besser als keiner. Wer keinen hat, ist ein Langweiler, das weiß jeder. Und Langweiler sind noch unbeliebter als Außenseiter. Langweiler existieren für die anderen gar nicht. Obwohl, eigentlich will ich hier gar nicht existieren, ich will bloß das Jahr rumkriegen und wieder raus aus der Schule. Ich habe also nichts dagegen, ein Außenseiter zu sein. Sicher, es wäre vermutlich toll, beliebt zu sein und zu den Leuten zu gehören, die den Ton angeben. Der Preis wäre aber zu hoch. Der Preis wäre, dass ich mit Leuten abhängen müsste, die schon im Sandkasten immer die Burgen der anderen zertreten und nie selbst was auf die Reihe bekommen haben und auch nie bekommen werden. Entweder man ist so ein Mensch oder nicht. Ich bin es nicht. Darum kann ich mit denen nichts anfangen. Würde ich mich verstellen und dazugehören wollen, müsste ich Gerri, das Tier, als Boss anerkennen. Ein Arschloch über mich stellen. Und bevor das passiert, steht die Welt still.

Der Unterricht langweilt mich, aber ich habe es mir schließlich selbst ausgesucht, hier zu sein. Was mich wirklich überrascht, ist, dass die Lehrer tatsächlich nett zu sein scheinen oder zumindest annehmbar und nicht nur so tun als ob. Olaf Wenzel, so heißt unser Klassenlehrer, ist sogar supernett. Wenn einer nichts weiß, macht er ihn nicht runter. Wenn sich einer sogar echt dämlich anstellt, auch nicht. Erstaunlich. Was für ein Unterschied zum superteuren Gymnasium! Dort hieß es nur, das müsst ihr können und das und das. Lauter kleine Roboter werden dort gezüchtet. Noten sind das Einzige, was bei denen zählt. Wenn einer was nicht schafft, wenn es einem schlecht geht, das interessiert keine Sau.

Diese neue Schule hier ist eine andere Welt, erstaunlich, echt. Die Unterrichtsstunden sind also relaxed, die Pausen sind aber eine andere Baustelle. Sind die Lehrer draußen, regiert die Hackordnung und ich bin noch nicht eingereiht. Sie wissen noch nicht, wie sie mich einschätzen sollen. Ich habe sie aber längst durchschaut. Ganz oben stehen Gerri und seine Handlanger. Dann kommen die Langweiler. Und dann Ali.

Und dann gibt es natürlich noch die Mädchen. Sieben, um genau zu sein. Sie sitzen in den vorderen Reihen alle beieinander, eine eigene Liga, die ich noch nicht durchschaut habe. Auch sie haben sicher eine Rangordnung, die interessiert mich aber nicht. In den Pausen stehen sie meist beisammen und lachen über Sachen auf ihren Handys. Marlene, das schärfste Mädchen der Klasse, fährt sich ständig durch die Haare und schaut oft zu den Jungs, auch wenn sie so tut, als wäre sie viel zu gut für uns. Sie schaut aber nur zu den angesagten Jungs.

Auch zu mir hat sie schon geschaut, aus Neugierde, würde ich sagen, nicht mehr. Sicher, ich sehe nicht schlecht aus, bin so groß wie die meisten anderen auch, obwohl einige älter sind als ich, bin schlank und habe Haare, die länger sind als die der meisten anderen. Mit einer supermodernen Frisur käme ich mir blöd vor, darum lasse ich das. Kathi kommt manchmal in den Pausen zu mir, wenn ich alleine am Fenster stehe und rausschaue. Wir sagen nicht viel, ich will hier drinnen auch keine Freundin haben. Wenn ich nicht am Fenster stehe, gehe ich möglichst raus, auf das große freie Schulgelände, und schlendere herum. Ich sehe genau, wie mich Gerri und seine Leute fixieren. Sie lauern. Vielleicht hecken sie was aus. Jetzt jedenfalls stehe ich am Fenster, die Schulglocke hat schon geläutet, Rammeder wird gleich durch die Tür kommen, steif und extrem aufrecht, um uns zu erklären, warum Gras grün und Wasser blau ist. Bio auf Höchstniveau.

Kathi stellt sich neben mich. »Alles klar bei dir?«

»Klar«, sage ich und zucke ein wenig, weil sie so dicht bei mir steht, dass sich unsere nackten Arme berühren. Die Härchen an den Unterarmen stellen sich auf. Ich rühre mich keinen Millimeter. Hammer. Jede Zehntelsekunde davon ist magisch. Ich wage kaum zu atmen, will das nicht zerstören. Leider erledigt das Schöni, die Nummer zwei hinter Gerri. Er ist der Schönste in der Klasse und auch ziemlich cool, darum kann er sich so weit oben halten. Er steht jetzt neben mir, schaut auf meine Hände, schreit zu seinen Leuten rüber, sie sollten sich das ansehen. Kathi und ich werden umringt, sie drängen sich im Halbkreis um uns, Gerri greift nach meiner Hand, ich schlage seine weg.

»Leute, alle herschauen. Schaut, wen wir da haben! Psycho mit den Bluthänden!«

Dann hat er eine Spitzenidee, man sieht es schon an seinem Gesicht, bevor er sie rauslässt. »Kathi, Kathi. Du musst dich ein bisschen besser um deinen Psychofreund kümmern. Der Arme ist ja schon ganz wund, er sollte weniger mit seinem Ding rumspielen.«

Das Proletengelächter endet abrupt und alle gehen auf ihre Plätze, weil Rammeder »Herrschaften!« sagt. Bei Rammeder reicht das. Er hat eine mächtige Stimme und muss nicht brüllen. Er ist der einzige Lehrer, der es hier drinnen mit Autorität versucht und auch Erfolg hat, wie man sieht.

Wenn Wenzel einer Klasse wie der unsrigen die Größen der Literatur schmackhaft machen will, kann er einem leidtun. Er verehrt die alten Meister, aber er schafft es nicht, einen Einzigen von uns Jungs damit zu erreichen. Die meisten von uns würden freiwillig niemals ein Buch aufschlagen und schon gar keines, das in keiner Weise an Comics erinnert. Keine Chance, werter Herr Klassenlehrer. Kathi und zwei oder drei der anderen Mädchen tun ihm den Gefallen und geben ihm das Gefühl, dass sie Shakespeare und Goethe nicht völlig für die Tonne halten, und das mag ich an den Mädchen. Sie respektieren andere, die es verdienen, in diesem Fall ist Wenzel der Glückliche.

Ich selbst lese zwar ziemlich viel, aber nicht, weil ich was lesen muss, sondern weil es Bücher gibt, die mir was geben. Während ich nachdenke, was ich jetzt gern lesen würde, zeichnet meine Hand, die linke, weil ich Linkshänder bin, mit dem Bleistift im Deutschheft rum. Sie zeichnet einen Typen, der die Arme vor der Brust verschränkt hat, den Kopf hoch oben trägt und mit muskulösen Beinen fest auf dem Boden steht. Energisches Kinn, fester Blick. Jetzt fehlen nur noch Kostüm und Umhang, und schon hab ich Superman gezeichnet. Immer wieder kritzle ich solche Figuren in Hefte und Bücher, ohne es zu wollen. Vielleicht kommt das von dem Traum, den ich so oft habe, wo ich fliege. Obwohl, im Traum hab ich kein Kostüm an, zumindest weiß ich nichts davon.

Ali stößt mich mit dem Ellbogen an und grinst. Es ist mir peinlich, dass er das hier sieht, und ich streiche die Figur durch, wieder und wieder, bis man sie fast nicht mehr erkennt. Ali findet das schade und fängt selbst an zu zeichnen.

»Es ist nicht genug, zu wissen, man muss auch anwenden; es ist nicht genug, zu wollen, man muss auch tun«, sagt Wenzel eben.

»Von was redet er?«, frage ich Ali.

»Goethe. Zitate.«

Das gefällt mir, das Zitat. Recht hat er, der Goethe. Das schreibe ich mir ins Heft: Man muss auch tun. Wollen allein reicht nicht.

Wieder stößt mich Ali mit dem Ellbogen an und zeigt mir mit strahlendem Gesicht, was er gezeichnet hat. Zwei Superhelden. Einen, der finster dreinschaut und groß und stark ist, und einen, der kleiner ist, ein Wuschelkopf mit Strahlemanngesicht. Klar, wer das sein soll. Beide haben ein Kostüm an, seines ist rot, meines dunkelblau, sie passen gut zusammen. Ich verdrehe die Augen und lächle innerlich. Ein Superheld, der Gedanke hat was. Ich will mir das kurz mal vorstellen. Wie wäre das? Wie fühlt man sich als Superman? Gut fühlt man sich, das ist klar, aber sonst? Stark. Unverwundbar. Wie einer, der handelt. Ich überlege: Wäre auch das dumme Gefühl weg, wenn man an etwas denkt, was nicht sein soll und trotzdem ist?

Darüber will ich mal intensiv nachdenken, wenn ich allein bin. Als ich wieder zu Ali schaue, hat er was unter die Figuren geschrieben. Heroes! Das magische Duo

Magische hat er doppelt unterstrichen. Er schaut mich an, nickt und lächelt bestimmt. Das magische Duo. Ich lege die Stirn in Falten und grinse blöd. Der Gedanke ist natürlich super, aber sind wir nicht zu alt für solche Späße? Ein Held sein, ich lächle innerlich, offenbar bin ich noch nicht zu alt. Heroes.

Wie bestellt sagt Wenzel: »Man kann nicht immer ein Held sein, aber man kann immer ein Mann sein.«

»Stimmt auch wieder«, sage ich zu Ali und frage ihn: »Wieder Goethe?«

Ali nickt und sagt: »Ein Held ist trotzdem besser«. Und malt seinem Krauskopf-Helden eine rote Maske ins lachende Gesicht.

Thomas Hartl & Mirjam Zels
Fauststarker Herzschlag[1]
Verlag Kunstanstifter
160 S., geb. Halbleinen, 22,00 €

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