Schuld, Scham und Sühne

Geschichte und Politik - ein streitsüchtiges Paar

  • Stefan Bollinger
  • Lesedauer: 3 Min.

Die historischen Fakten sind kaum mehr umstritten, Linke könnten sich auf der sicheren Seite vermuten. Die großen Kontroversen nach 1989 scheinen überwunden. Die Präventivkriegsthese, nach der 1941 Hitler nur einem Angriff Stalins zuvorgekommen sei, ist zerpflückt. Die etablierte Historiographie ist sich hier zumeist einig. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden dennoch immer wieder unter nationalkonservativen oder nationalistischen Vorzeichen attackiert.

Über den verbrecherischen Charakter des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion und die mörderische Kriegsführung herrscht in der offiziellen Politik in der Bundesrepublik scheinbar Einigkeit. Die Bundeskanzlerin bekennt in einem Podcast: »Für uns Deutsche ist dieser Tag Anlass für Scham. Scham über einen schonungslosen Angriffsfeldzug und über das Entsetzliche, was Deutsche den Menschen in den überfallenen Gebieten angetan haben.« Allerdings, ein staatsoffizielles Gedenken etwa im Bundestag wird vermieden. Obwohl alle im Parlament vertretenen Parteien, von links bis ganz rechts, sich auf die Verurteilung des vor 80 Jahren von Deutschland ausgegangenen Krieg verständigt haben, wie zwei Bundestagsdebatten jüngst zeigten. Das ist in dieser Breite, bei allen unterschiedlichen Akzentuierungen, neu und ein Fortschritt. Nur, die Regierungsparteien sowie Grüne und FDP schieben ein entscheidendes »Aber!« hinterher.

Wie so oft geht der Streit nicht um die großen, mit dem Blut von rund 27 Millionen Sowjetbürgern, darunter über 17 Millionen Zivilisten aller Nationen und Ethnien geschriebenen Fakten. Sondern es geht um die politische Einordnung der Geschichte und der konkreten Erinnerungspolitik in die heutigen Auseinandersetzungen zwischen dem Westen und Russland. Positive Wertung und Würdigung der sowjetischen respektive russischen Opfer könnte, so die Befürchtung einiger Entscheidungsträger im Westen, die Macht des russischen Präsidenten Wladimir Putins stärken und dessen, wie es heißt, völkerrechtswidrige Annexion der Krim, akzeptieren. Dies schlägt sich in der Bewertung des Anteils der Sieger von 1945 am Sieg über den Faschismus nieder - mit klarer Präferenz für die westlichen Demokratien gegenüber einer totalitären Diktatur, die östlich der Elbe nach 1945 nur durch eine andere Diktatur ersetzt worden sei. Das offenbart sich im Streit über den Charakter der Befreiung in Osteuropa, der von den nach 1989/91 in Polen, im Baltikum oder der Ukraine an die Regierung gelangten Eliten als Fortsetzung der Nazi-Okkupation angesehen wird.

Höhepunkt dieses Streits war 2019 zum 80. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs der Totalitarismusbeschluss des Europäischen Parlaments. Darin wurde auf Initiative osteuropäischer Staaten eine Gleichwertigkeit des deutschen Überfalls auf Polen und des Einmarschs der Sowjetarmee in das östliche Nachbarland drei Wochen später gemäß der im Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939 vereinbarten Sicherheitszonen behauptet. Bezeichnenderweise hat Moskau anlässlich des 75. Jahrestages des Sieges versucht, in eine wissenschaftliche wie politische Debatte darüber mit dem Westen einzusteigen. Doch selbst auf das ausgewogene Diskussionsangebot des russischen Präsidenten wurde nicht eingegangen, der in einem Artikel 2020 detailliert die sowjetisch-russische Sicht auf die Abläufe am Vorabend des Krieges dargelegt, die gemeinsame Verantwortung aller damaligen Staaten, auch der Sowjetunion, am Gewährenlassen Nazideutschlands unterstrichen sowie betont hatte, dass der Faschismus nur durch das gemeinsame Handeln aller Mächte und antifaschistischen Kräfte zu bezwingen war.

Vordergründig geht es um die Schuldfrage, hintergründig um die Bewertung der 1930er Jahre für den Kampf gegen Hitlerdeutschland: einerseits das insbesondere von der Sowjetunion angestrebte System der kollektiven Sicherheit, andererseits die Appeasement-Politik der westlichen Demokratien, die Deutschland gegen die Sowjetunion hetzen sollte. Letztere hat unlängst der britische Historiker Jonathan Haslam in seinem Buch »The Spectre of War. International Communism and the Origins of World War II« als das entlarvt, was sie war: Nicht die klamme Kasse für die Rüstung, nicht die unbändige Angst vor einem Krieg, sondern politisches Kalkül der Regierenden in London und Paris, die nichts mehr als den Kommunismus fürchteten, hat Hitler den Weg in den Krieg geebnet.

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