nd-aktuell.de / 22.06.2021 / Politik / Seite 4

Verachtung in Schwarz-Weiß

Fotos von Bewachern im Kriegsgefangenenlager Zeithain offenbaren den Hass in ihren Köpfen

Hendrik Lasch

Die Kiste wirkte äußerlich unverfänglich: eine graue Archivbox, versehen mit den Worten: »Historische Dokumente bis 1945«. Was darin zum Vorschein kam, war um so schockierender. In einem Briefumschlag steckten 75 Fotografien in Schwarz-Weiß. Sie stammten, wie ein beiliegendes Blatt Papier angab, aus Zeithain, wo in der NS-Zeit das größte Lager für sowjetische Kriegsgefangene im deutschen Reich betrieben wurde. Die Fotografien zeigen entsetzliche Szenen. »Ich war der Meinung, ich hätte schon viel gesehen an Grausamkeit«, sagt Daniela Schmohl von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes / Bund der Antifaschisten (VVN-BdA), in deren Bibliothek die Kiste vor einigen Monaten zufällig entdeckt wurde. »Aber etliche dieser Fotos ziehen einem den Boden weg angesichts der Menschenverachtung, die aus ihnen spricht.«

Die Fotografien stammen von Wachleuten des Lagers; zumeist nicht mehr ganz jungen Soldaten der Wehrmacht und eines Landesschützenbataillons, die zum Teil schon im Ersten Weltkrieg gedient hatten und nun aus Altersgründen an der »Heimatfront« eingesetzt wurden: im Stalag (Stammlager) 304, das ab April 1941 auf einem Truppenübungsplatz nahe der sächsischen Stahlstadt Zeithain errichtet wurde. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 füllte es sich schnell mit Tausenden in Kriegsgefangenschaft geratener Rotarmisten. Einer der Wachleute war jener Brillenträger, der, seinen Karabiner über der Schulter, auf einem Bild in die Kamera grinst. Hinter ihm hocken mehrere Gefangene in zerlumpter Kleidung nebeneinander auf einer improvisierten Latrine und verrichten ihre Notdurft. »Eine würdelose Szene«, sagt Jens Nagel, Leiter der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain. »Man fragt sich, was Menschen motivierte, dieses Elend im Lager zu fotografieren und die Bilder dann in Sammelalben zu kleben.«

Moralische Abgründe

Die deutschen Soldaten, die ab September 1939 zunächst Polen und mehrere Länder in Westeuropa besetzt hatten und ab dem 22. Juni 1941 in der Sowjetunion einfielen, wurden ausdrücklich dazu angehalten, ihre Kriegserlebnisse zu fotografieren. Das Propagandaministerium habe sie aufgefordert, ihre Kamera »auch im Dienst nicht ruhen zu lassen«, sagt Sandra Starke vom Zentrum für Zeithistorische Forschungen in Potsdam. Jeder zehnte Deutsche besaß zu Kriegsbeginn eine Kamera; die Einberufung war vielen Anlass, einen Apparat zu erwerben. Zeitschriften warben, die Soldatenzeit als »eine der schönsten des Lebens« im Bild festzuhalten; sie lieferten Anleitungen für gelungene Fotos und bedienten sich dabei militärischer Sprachbilder: »Ein Blick, ein Schuss, ein Treffer«. Fotos oder belichtete Filme wurden zwischen Soldaten und deren Familien hin- und hergeschickt; sie sollten den Zusammenhalt zwischen Front und Heimat stärken. Es entstanden Abertausende so genannter »Knipserbilder«, die Historiker heute als wertvolle Dokumente für ihre Forschungen ansehen. Starke, die eine Ausstellung namens »Fremde im Visier« kuratiert hat, erklärt: »Der Blick auf die anderen sagt viel über das Selbstbild der Soldaten.«

Im Fall der Bilder der sowjetischen Soldaten, die Wachleute im Kriegsgefangenenlager Zeithain fotografierten, offenbaren sich moralische Abgründe und eine beispiellose Verachtung für die militärischen Gegner. Die harmloseren der Fotografien zeigen ausgemergelte Männer in abgerissenen Uniformresten, die erschöpft im Schlamm hocken. Die Gefangenen hausten in Zeithain anfangs in Erdlöchern und später in ärmlichen, kaum isolierten Baracken; die miserablen hygienischen Zustände trugen maßgeblich dazu bei, dass binnen vier Jahren allein in diesem einen Lager zwischen 25 000 und 30 000 sowjetische Häftlinge starben.

Schon die Bilder der elenden Verhältnisse unterschieden sich deutlich von Fotos, die von 1939 bis 1941 in Gefangenenlagern entstanden waren, sagt Nagel. Diese seien oft von Exotik geprägt. Festgehalten wurden zum Beispiel Soldaten aus Nordafrika oder Indien, die in der französischen oder britischen Armee dienten. Die Bilder der gefangenen Rotarmisten dagegen sollten die vermeintliche Überlegenheit der deutschen »Herrenmenschen« über die so genannten »Untermenschen« aus dem Osten in Szene setzen: »Das war ein grundsätzlich anderer Gestus.«

Noch gravierender offenbart sich die Mitleidlosigkeit des deutschen Blicks auf die gefangenen Sowjetsoldaten in Bildern von Toten, von Hinrichtungen, Folter und Massengräbern. Eine der im Leipziger Archiv gefundenen Fotografien zeigt Tote, die in einem Wäldchen aufgereiht liegen. Dahinter posieren Bewacher. Es entstand im Winter 1941, als der Boden teilweise so gefroren war, dass keine Gräber für die zahlreichen Toten ausgehoben werden konnten. Die Art, wie sie für das Bild arrangiert wurden, erinnere ihn an ein »Trophäenbild«, sagt Nagel: »Wie nach einer Treibjagd.« Ein anderes Foto zeigt Gefangene, die an ihren nach hinten gezogenen Armen an einem Pfahl aufgehängt wurden - eine Foltertechnik, die in der österreichisch-ungarischen Armee ersonnen und von einem aus Österreich stammenden Lagerkommandanten nach Zeithain gebracht wurde.

Mehrfach finden sich in dem Konvolut Aufnahmen einer Hinrichtung, bei der drei Gefangene erhängt wurden. Bei einem riss der Strick; der Gefangene wurde erschossen. Von dieser Hinrichtung wie auch vom Pfahlhängen habe man bisher Kenntnis durch Erinnerungen ehemaliger Gefangener oder aus Protokollen späterer Untersuchungen. »Nun gibt es auch fotografische Belege«, so Nagel.

Eigentlich hätte es die Fotografien freilich gar nicht geben würfen. In den Kriegsgefangenlagern herrschte, anders als beim Fronteinsatz oder dem militärischen Alltag in den besetzten Gebieten, ein »kategorisches Fotografierverbot«, sagt Nagel. Dennoch seien zumindest in den Jahren bis 1942 Zigtausende Fotos in den Lagern entstanden, in Zeithain wie andernorts. »Das war ein permanenter Verstoß gegen Dienstvorschriften« - der aber nicht geahndet wurde: »Die Offiziere waren ja selbst pausenlos am Fotografieren.« Ein prominentes, seit längerem bekanntes Beispiel für Zeithain ist ein Kompaniechef des Landesschützenbataillons, ein Lehrer aus Leipzig und Veteran des Ersten Weltkriegs, der hundertfach knipste - ohne jeden Respekt für die Gefangenen: »Teils hat er direkt in deren tote Augen fotografiert.«

Im Prinzip ließe sich sagen: Die Fotografien sind bildhafter Ausdruck der NS-Propaganda. Sie zeigen, wie Sandra Starke formuliert, die »Entmenschlichung« der sowjetischen Soldaten, denen »jede Würde abgesprochen wurde«. Allerdings weist Nagel auf einen bemerkenswerten Umstand hin. In der Zeit nach Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes im August 1939 sei die antisowjetische Propaganda im NS-Staat stark heruntergefahren worden. »Da findet sich kaum mal ein entsprechender Artikel im ›Völkischen Beobachter‹«, sagt er. »Die Propagandamaschine musste nach dem Überfall im Juni 1941 erst wieder angeworfen werden.« In den Köpfen der deutschen Soldaten aber waren die Klischees und Vorurteile über »die Russen« offenkundig tief verankert. Die Fotos, die in Lagern wie Zeithain entstanden, deckten sich »in der Motivwahl jedenfalls eins zu eins mit der Propaganda des NS-Staats«, sagt Nagel.

Sie zeigen auch, dass sich das Dritte Reich im Umgang mit sowjetischen Gefangenen an internationale Regularien und völkerrechtliche Vereinbarungen nicht hielt. Die Dienstvorschriften der Wehrmacht sahen vor, Gefangene nach den Maßgaben der 1934 von Deutschland ratifizierten Genfer Konvention zu behandeln, unabhängig von ihrer Herkunft. Dagegen wurde teils bereits bei gefangen genommenen Polen verstoßen. Offiziere wurden »ehrenhaft« behandelt, durften Post sowie Besuch empfangen. Die Mannschaftsdienstgrade dagegen seien zwar oft aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, aber umgehend als Zwangsarbeiter rekrutiert worden, »was gegen Völkerrechtsnormen verstieß«.

Die Sicht der Täter

Im Fall der sowjetischen Kriegsgefangenen scherte man sich um diese Normen keinen Deut mehr. Zwar gab es interne Interventionen gegen das von der Wehrmacht praktizierte unmenschliche Regime; eine juristische Note der von Wilhelm Canaris geführten Abwehr wies im September 1941 darauf hin, dass sowjetische Gefangene gemäß Genfer Konvention zu behandeln seien, unabhängig von der Tatsache, dass die UdSSR diese nicht ratifiziert habe. Die Armeeführung wischte den Hinweis aber vom Tisch. Man stehe im »Weltanschauungskrieg«, erwiderte Wilhelm Keitel, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht: »Ich decke alle Maßnahmen.«

In Zeithain wurde dabei besonders erbarmungslos verfahren. Jens Nagel belegt das mit Fotos aus dem nahe gelegenen Lager in Mühlberg an der Elbe, wo ebenfalls gefangene Rotarmisten interniert waren. Dort gab es eine Kantine in einem gemauerten Gebäude; Werkstätten, in denen die Soldaten Gegenstände aus Stroh flechten; oder eine Theaterbaracke, in der ein sowjetisches Lagerorchester spielte. In Zeithain wurde das Essen aus Kübeln verteilt, die unter einem zugigen Bretterverhau standen. In den Baracken gab es weder Toiletten noch Waschgelegenheiten; die Sanitäreinrichtungen, die errichtet wurden, entsprachen keinerlei zivilisatorischen Standards. Es seien »in jeder Beziehung nur die minimalsten Anforderungen erfüllt worden«, sagt Nagel, »ganz gleich, ob es um Nahrung, Kleidung oder Unterbringung ging.«

Die Folgen lassen sich an der horrenden Zahl der Toten eindrücklich ablesen. Sie liegen auf vier Friedhöfen mit 84 Reihen von Massen- sowie Hunderten Einzelgräbern. Auf dem Gebiet der Bundesrepublik, sagt Jens Nagel, seien neben Berlin »in keiner Kommune mehr Soldaten der Roten Armee bestattet als in Zeithain«. Er hätte sich gewünscht, dass bei den Gedenkveranstaltungen zum 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion ein Tatort wie dieser eine größere Rolle spielt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nahm am vergangenen Freitag an der Eröffnung einer Ausstellung über sowjetische Kriegsgefangene im Deutsch-Russischen Museum in Berlin-Karlshorst teil. Das sei zweifellos ein bedeutender Ort der Erinnerung, sagt Nagel, »aber es ist, anders als Zeithain, keiner der Orte, an denen die historischen Verbrechen tatsächlich verübt wurden.«

Erinnert wird an diese in einer Gedenkstätte, die an eine 1985 eröffnete Vorgängerin anknüpft. In der Dauerausstellung sind Lagepläne des weitläufigen Stalag 304 zu sehen; persönliche Gegenstände und Utensilien, die bei Grabungen gefunden wurden sowie Zeichnungen ehemaliger Gefangener. Diese seien die einzigen bildlichen Darstellungen aus Sicht der Opfer, sagt Nagel: »Alle Fotos und Filme, die wir haben, geben ja die Täterperspektive wieder.« Das trifft insbesondere auf Fotografien zu, wie sie im Leipziger Archiv der VVN-BdA gefunden wurden.

Viele von diesen werden erneut in einem Archiv verschwinden, sagt Gedenkstättenleiter Jens Nagel. In der Ausstellung zeige man keine Aufnahmen, die Leichen, Massengräber oder nackte Gefangene darstellen: »Die Würde der Opfer hat oberste Priorität.« Bei anderen Aufnahmen müsse erklärt werden, dass sie gestellt sind; dass Gefangene in Szene gesetzt und gezielt herabgewürdigt wurden. Es sind Fotografien von den Tätern. Und diese bringen auch in scheinbar beiläufigen »Knipserbildern« vor allem eines zum Ausdruck: abgrundtiefe Menschenverachtung.