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  • 80 Jahre Überfall auf die Sowjetunion

Gedenken mit dem Smartphone

Das NS-Dokumentationszentrum Zwangsarbeit in Berlin erinnert via Social Media an den 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion

  • Maximilian Breitensträter
  • Lesedauer: 4 Min.

Galina Fjodorowna Romanowa hat schon als kleines Kind einen großen Herzenswunsch: Als Medizinerin möchte sie anderen Menschen helfen. 1918 als Tochter eines Schmieds in dem ukrainischen Dorf Romankowo geboren, tritt sie schon als Schülerin in den Komsomol, die Jugendorganisation der kommunistischen Partei der Sowjetunion, ein. Später wird sie Studentin am Medizinischen Institut von Dnepropetrowsk.

Am 22. Juni 1941 überfällt die faschistische Wehrmacht in einem Angriffskrieg unter dem Decknamen »Barbarossa« ihre Heimat. Galinas Pläne sind damit von einem auf den anderen Tag auf den Kopf gestellt. Trotz mehrerer Unterbrechungen und vor dem Hintergrund des in ihrem Land wütenden Krieges gegen die bestialisch agierenden nationalsozialistischen Besatzer schafft es die junge Frau, das Studium 1942 abzuschließen. Doch noch im Juli desselben Jahres ändert sich Galinas Leben für immer: Zusammen mit anderen Medizinabsolvent*innen wird sie von Wehrmachtssoldaten in das Deutsche Reich verschleppt. Als Ärztin wird sie zur Zwangsarbeit in den brandenburgischen Barackenlagern in Wildau und Oranienburg gezwungen. Die unmenschlichen Bedingungen und der allgegenwärtige Hunger in den Lagern schockieren die junge Frau zutiefst. Galina entschließt sich zum Widerstand. Gemeinsam mit anderen sowjetischen Zwangsarbeitenden schließt sie sich über Kontaktwege im Untergrund der Widerstandsgruppe »Europäische Union« um den Berliner Arzt und Nazigegner Georg Groscurth an. Über ihn bezieht Galina Medikamente für die Versorgung schwer kranker Zwangsarbeitender, zu denen sie ansonsten keinen Zugang hat. Doch die Gestapo bekommt von dem geheimen Medikamentenhandel Wind. Die Widerstandsgruppe wird zerschlagen, Galina mit anderen Beteiligten verhaftet. Mit 25 Jahren wird die Ukrainerin am 3. November 1944 in Berlin-Plötzensee mit dem Fallbeil getötet.

Die Biografie der jungen Medizinerin steht im NS-Dokumentationszentrum Zwangsarbeit in Niederschöneweide im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick stellvertretend für die Schicksale der historischen Schätzungen zufolge knapp drei Millionen sowjetischen Zivilist*innen, die im Dritten Reich Zwangsarbeit leisten mussten. Hinzu kommen weitere zwei Millionen sowjetische Kriegsgefangene, die nach dem Scheitern der Blitzkriegsstrategie Ende 1941 zur Zwangsarbeit verschleppt wurden. Sie alle sollten den massiven Arbeitskräftemangel ausgleichen und die deutsche Kriegsindustrie am Laufen halten.

Anlässlich des 80. Jahrestages des Überfalls auf die Sowjetunion in diesem Jahr hat das Dokumentationszentrum eine Social-Media-Kampagne ins Leben gerufen. »Über unsere Kanäle in den sozialen Netzwerken wollen wir über die Hintergründe des Angriffskrieges informieren, darüber aufklären, wie es im Kriegsverlauf zum Einsatz von Zwangsarbeiter*innen kam und wie die Bedingungen für die zur Arbeit gezwungenen Menschen im Deutschen Reich waren«, sagt die Leiterin des Dokumentationszentrums Christine Glauning.

Mit der Aktion will man der Opfer gedenken und Interessierte einladen, das 2006 auf dem Gelände eines ehemaligen Arbeitslagers in der Britzer Straße eröffnete Dokumentationszentrum nach der in der Corona-Pandemie erzwungen Schließungspause zu besuchen. In der Dauerausstellung »Alltag Zwangsarbeit 1938-1945« nimmt die Geschichte der sogenannten Ostarbeiter breiten Raum ein. »Die Zwangsarbeiter*innen aus der Sowjetunion, die sogenannten Ostarbeiter, bildeten die mit Abstand größte Gruppe von Zwangsarbeiter*innen in Berlin und im Deutschen Reich«, sagt die Historikerin Glauning. »Wir zeigen die Geschichte der Zwangsarbeit als im NS-Staat allgegenwärtiges Massenphänomen, klären durch einzelne Biografien über das Leben der zur Arbeit verschleppten Männer, Kinder und Frauen auf und schildern die rassistische Hierarchie des NS-Regimes, die sich auch auf die Zwangsarbeiter*innen auswirkte.«

Die Behandlung der in großen wie kleinen Betrieben zur Arbeit Gezwungenen unterschied sich hinsichtlich Unterkunft und Verpflegung je nach Stellenwert, der ihnen als Menschen gemäß der Rassenideologie der Nazis zugeschrieben wurde. So sahen sich »Westarbeiter« tendenziell besser behandelt als »Ostarbeiter« und französische Kriegsgefangene besser als sowjetische. Insbesondere von den sowjetischen Zwangsarbeiter*innen starben Zehntausende an Unterernährung sowie an Krankheiten.

»Zwangsarbeiter*innen waren keine homogene Einheit, sondern sehr unterschiedliche Personengruppen, die zwar alle für das Deutsche Reich tätig sein mussten, aber zu unterschiedlichen Bedingungen arbeiteten und lebten«, erklärt Glauning. Am untersten Ende der Hierarchie standen Jüd*innen sowie Sinti und Roma.

»Es ist wichtig, die Spezifika jeder einzelnen Gruppe von Zwangsarbeiter*innen zu thematisieren, um den NS-Rassenwahn und die Zwangsarbeit als eigenständigen Teilaspekt der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspraxis zu verstehen«, so die Leiterin des Dokumentationszentrums. Diesen inhaltlichen Ansatz verfolgt ihre Einrichtung sowohl in den Dauer- und Wechselausstellungen, als auch in dem in den vergangenen Jahren ausgebauten Bildungsangebot, darunter Jugendbegegnungen mit Partnerinstitutionen in Russland, Belarus und der Ukraine. »Wir wollen informieren und ein Forum für Austausch und Debatten bieten«, erläutert Glauning.

In den vergangenen Jahren sei das Interesse am Thema Zwangsarbeit gewachsen, begünstigt durch deutsche Entschädigungszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter*innen und eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Das gesteigerte Interesse drückt sich auch in den Besucherzahlen in Niederschöneweide aus: Im Zeitraum 2018 und 2019 besuchten mit rund 18 500 Menschen jährlich etwa 20 Prozent mehr als in den Vorjahren das Dokumentationszentrum. In der Pandemie sind die Zahlen naturgemäß eingebrochen. Historische Gedenktage wie an den Überfall auf die Sowjetunion können helfen, das Thema Zwangsarbeit in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken - damit Menschen wie Galina Fjodorowna Romanowa nicht vergessen werden.

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