Nah am Voyeurismus

Der tschechische Dokumentarfilm »Gefangen im Netz« handelt von sexueller Gewalt gegen Kinder im Internet

  • Nicolai Hagedorn
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Versuchsanordnung ist denkbar simpel: Drei 12-jährige Mädchen erstellen unverfängliche Social-Media-Profile, nach wenigen Minuten stehen die ersten Herren Schlange, kurz darauf werden Penisse gezeigt und »zieh doch mal dein T-Shirt aus« gefordert. Und es dauert dann auch nicht mehr lange, bis die Mädchen Kinder- und Tierpornos zugeschickt bekommen und von den Verehrern, die teilweise im Seniorenalter sind, zu realen Sextreffen eingeladen werden.

Bei alldem ist ein Filmteam zugegen, die Mädchen sind in Wahrheit volljährige Schauspielerinnen, die Kinderzimmer extra angefertigte Studiokulissen und der ganze Aufbau das Set des Dokumentarfilms »Gefangen im Netz«, der nun auch in deutschen Kinos anlaufen soll.

23 Mädchen waren dem Casting-Aufruf des tschechischen Filmteams nach einer »erwachsenen Schauspielerin, die wie 12 oder 13 aussieht« gefolgt, 19 von ihnen erzählten während des Castings von eigenen Erfahrungen mit »Missbrauch im Internet«, wie es in einer Einblendung heißt. Letztlich werden drei tatsächlich sehr kindlich aussehende Frauen ausgewählt, die das Experiment durchführen sollen.

Bald melden sich die ersten Männer, die Mädchen werden routiniert umgarnt, ihnen werden Komplimente gemacht, man lernt sich kennen. Aus Chats werden Video-Sessions, und meist geht es sehr schnell, bis die Herren zur Sache kommen, Brüste sehen und Schwänze zücken wollen, es wird viel masturbiert von den Männern in »Gefangen im Netz«. Einer brüllt, das Kind solle ihm »endlich« seine Brüste zeigen, damit er abspritzen könne, da er sonst »furchtbare Schmerzen« habe und ins Krankenhaus müsse. Der Film ist oft schwer erträglich, die Schauspielerinnen müssen fortwährend als Wichsvorlagen herhalten, sie lassen es tapfer über sich ergehen, schließlich werden Treffen vereinbart, bei denen die Männer den vermeintlichen Kindern erklären, wie sie ihnen beim nächsten Date die Klitoris massieren wollen.

Wie sehr die Dreharbeiten an den Nerven der Darstellerinnen gezehrt haben müssen, wird deutlich, als sich ein junger Mann meldet, der tatsächlich keine sexuellen Absichten hat und trotz mehrmaliger Nachfragen jedes Interesse an nackten Kinderbrüsten und ähnlichem verneint, worauf die junge Frau vor Rührung zu weinen beginnt - damit, dass ein Mann wirklich nur ein bisschen reden will, war offenbar nicht mehr zu rechnen.

Der Film macht, das ist sein Verdienst, wie auch das ähnlicher Reportagen, ein Problem sichtbar, über das durchaus viel gesprochen wird, das im Grunde auch in der Öffentlichkeit präsent ist, das aber häufig nur abstrakt diskutiert wird und dabei viel von seinem konkreten Schrecken verliert. Insofern gelingt den Regisseur*innen Barbora Chalupová und Vít Klusák durchaus eine erhellende Dokumentation, und um eindringlich darauf hinweisen zu können, über welche Dimensionen von Kindesmissbrauch es hierbei geht, ist es vielleicht notwendig, die extremen Bilder, die dabei entstanden sind, auch ungeschönt und nur leicht verpixelt zu zeigen.

Leider kümmert sich »Gefangen im Netz« dabei aber zu wenig um wissenschaftliche Einordnungen oder um die Frage, warum junge Mädchen auf die Avancen eingehen. Da heißt es dann lapidar, sie seien eben in der Pubertät und hätten erste Probleme mit ihren Eltern. So bleibt in erster Linie das schlichte Anprangern der Täter und der Taten. Daraus wird auch kein Hehl gemacht, die Versuchsanordnung zielt offensichtlich darauf, Männer anzulocken, die Mädchen bekommen Anweisungen, wie sie sich in den Gesprächen verhalten sollen, schließlich werden sogar mit Hilfe von Body-Doubles Nacktfotos angefertigt, die den Männern auf deren Wunsch zugesandt werden.

So führt der Film die Bodenlosigkeit der Internet-Anmache vor, allerdings ohne die patriarchalen gesellschaftlichen Ausbeutungsverhältnisse, die derartige Auswüchse zu einem nicht unerheblichen Anteil bedingen, in den Blick zu bekommen. »Gefangen im Netz« beobachtet im Grunde in Detail- und Nahaufnahme Verbrechen, die die Filmemacher selbst provoziert haben und bewegt sich damit seinerseits oft gefährlich nah am Voyeurismus.

»Gefangen im Netz«: Tschechische Republik 2020. Regie und Buch: Barbora Chalupová und Vít Klusák. 105 Min. Mehr Infos: www.gefangenimnetz.de

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