nd-aktuell.de / 25.06.2021 / Kultur

Lenin überbieten

Plattenbau

Jens Buchholz

Olivia Rodrigo ist noch nicht mal 20 Jahre alt, hat aber schon alle sieben Kreise der Disney-Entertainment-Hölle durchschritten und bricht gerade irgendwelche Streamingrekorde. Rodrigo bringt die üblichen Helene-Fischer-Musical-Skills mit, ohne die man heute nicht mehr Popstar im Mainstream wird. Sie kann singen und tanzen, sie kann schauspielern und ihr Körper ist nach dem aktuellen Schönheitsideal für Tik-Tok-Girls modelliert.

Was haben wir Erwachsenen um die Jahrtausendwende herum über Britney Spears gekichert. Bis Jochen Distelmeyer sie mit einem schrammeligen Gitarrencover geadelt hat, auch für 50-jährige Pädagogen und Sozialarbeiter, die früher mal intellektuelle Indierocker waren. Also lache ich mal nicht über Rodrigo, sondern höre das Album gemeinsam mit meinem zwölfjährigen Kind an. Gleich der erste Track auf ihrem Debütalbum »Sour« haut einen vom Hocker. »Brutal« hört sich an, als hätten sich Rodrigos Eltern auf langen Roadtrips ständig Blur angehört. Und wenn man als 50-jähriger Indiepädagoge nicht Nackenschmerzen davon bekäme, dann könnte man richtig mitrocken. Aber das müssen jetzt halt die Kinder machen. Da heißt das Move.

Schon der zweite Song »Traitor« bedient aber das mit Lana-del-Rey-Soße übergossene Powerballaden-Bedürfnis. Und dann kommt ja auch schon der Super-Rekord-Hit »Drivers License«. Der Song hat einen C-Teil. Das gilt ja schon als Hochkultur in Zeiten von Spotify. »Step forward, 3 steps back« heißt der nächste Song. Hier überbietet Rodrigo sogar Lenin, der ja einen Schritt vorwärts, aber nur zwei zurück geht. Aber während es bei Lenin nur darum geht, wie die Bolschewiki die Menschewiki upfucken, geht es bei Rodrigo darum: »You got me fucked up in the head, boy«. So hat jeder seine Probleme. »Déjà-vu« ist genau das. Was bei Popmusik nicht verwunderlich ist. Aber manche Déjà-vus überraschen mehr, manche weniger. Dieses eher weniger. »Good 4 u« ist netter Surfrock, oder irgendwas in dieser Art. Macht Spaß! Irgendwas mit schnell, laut-leise, Akustik-Gitarre versus verzerrte E-Gitarre. Und dann kommt die Folk Ballade. Zupfgitarre. Authentisch. Verletzlich. Sie heißt »Enough for you«. »Happier« klaviert bohemianrhapsodiert for sich hin. Es geht schon wieder darum, dass sie nicht good 4 ein Boy ist, dem sie nicht enough ist. Und das schmerzt natürlich. Und das hört man.

»Jealousy, Jealousy« ist großartig. Großartiger Text: »’Cause all I see are girls too good to be true / With paper-white teeth and perfect bodies«. Und wunderbar wie das atonale Klaviergeklimper und der verzerrte Bass dieses Gefühl des Ungenügens ausdrücken. Bei »Favourite Crime« denkt man: Hatten wir das nicht gerade schon, aber da hieß es »Enough for You«? »Hope ur ok« beschließt das Album. Ganz viele Gitarrenschichten, ganz sparsam Keyboards. Sehr elegisch.

Wenn man jetzt also, so wie ich, fast 50 ist und das anhört, dann spricht einen das alles nicht so recht an. Ist ja auch kein Wunder, es geht weitgehend darum, wie sich das Teenagerleben halt so anfühlt. Und das trifft den Nerv junger Menschen, klar. Der Text des »Sumisu« dieser Generation wird lauten: »Und dann hörten wir Lana del Rey (manchmal auch Olivia Rodrigo), aber größtenteils Lana del Rey.«

Rodrigo hat die meisten Songs selbst geschrieben. Co-Autor vieler Songs ist Daniel Nigro, der in den frühen 2000ern mit der Band As Tall As Lions auf den Strokes-Zug aufspringen wollte. Ist ja jetzt üblich so, Mädchen wird von Ex-Indierocker produziert. Macht ja Lana del Rey auch so.

Rodrigos Lieder sind auch deshalb interessant, weil sie sich trotz Streaming-Statistik traut, ihnen komplexere Strukturen zu geben, also neben Strophe und Refrain beispielsweise eine Bridge. Und das ist schon auch stark.

»Wie fandst du’s?«, fragt mich das Kind nach dem letzten Song. »Ganz gut«, sage ich. Und alle sind zufrieden.

Olivia Rodrigo: »Sour« (Interscope/Universal Music)