(Über-)Lebensschule

Wie kommt man in der Wildnis klar? Schutz bauen, Feuer machen. Ein Kurs im Allgäu

  • Christian Schreiber
  • Lesedauer: 6 Min.

Eine Stunde hat es bis zum ersten Rauchzeichen gedauert. Wir wollen es mal als Friedensangebot der Natur werten. Schließlich mühen wir uns nach Kräften ab, ein Feuer zu entzünden, nur mit dem, was die Allgäuer Landschaft im Angebot hat. Wir haben trockenes Gras gesammelt und reiben in Hochgeschwindigkeit übers Holz, damit endlich Glut entsteht. Aber: alles Schall und Rauch. Nur: Wer mehrere Tage oder Wochen in der Wildnis überleben will, muss ein Feuer hinkriegen. Zum Glück soll unsere Zivilisationsflucht nicht so lange dauern. Streng genommen ist es nur eine Übung - unter dem Motto: zurück zu den Wurzeln der Natur, zu mir selbst, zum Wesentlichen.

Unser Wildnis-Training findet im Trettachtal bei Oberstdorf statt. An unserer Seite: Sven Gittermann, ein kräftiger Bursche, dem man blind durch die Wildnis folgen würde. Wenn nicht dauernd seine Aufforderung käme: »Jetzt mach du mal!« Das ist beim Feuer so, das ist beim Lagerbau so, und das ist ja auch Sinn und Zweck der Sache. Unsere Ausgangssituation heute Morgen war: Wir sind mit dem Raftingboot irgendwo im Nirgendwo gestrandet. Die Ausrüstung ist futsch, wir müssen überleben und alle zusammen helfen. Also schleppen wir Holz herbei. Große Stämme und kleine Äste, mit denen man einen Naturschlafsack konstruiert. Eigentlich ist es mehr ein Biwak, abgedeckt mit Reisig und vollgestopft mit Blättern, die die warmen Federn des Schlafsacks ersetzen. Beim Probeliegen stupst man mit der Nase gegen alle Seiten. Man ahnt, wie unbequem die Nacht wird.

Gittermann bietet sein Natur-Erlebnistraining als Tages- oder Wochenprogramm an. Manchmal kommen Familien, die mehrere Nächte mit ihm draußen verbringen wollen. Einmal war ein Paar aus Frankfurt da, mit denen der Allgäuer tagelang durch die Berge zog. Dann melden sich Hausfrauen, die mal Wildnis-Luft schnuppern wollen. Österreicher, Schweizer, Deutsche. Sogar Nonnen ließen sich von Gittermann schon in die Überlebenskunst einführen. Und natürlich kommen Leute, die es extremer wollen. Ex-Soldaten. »Manchmal muss ich den Rambo einfangen und die Leute runterholen«, sagt Sven. Warum die Camps und Kurse gerade so gefragt sind, lässt sich nicht nur damit erklären, dass die Teilnehmer die Nase voll haben von Instagram, Facebook und TV und einfach mal Ruhe haben wollen. Laut dem Theologen Markus Vogt von der Ludwig-Maximilians-Universität in München führt unser stark urban geprägter Alltag zu »zahlreichen Entfremdungserfahrungen«. Mehr und mehr Menschen würden sich daher von künstlichen Erlebnis- und Event-Veranstaltungen abwenden. »So ist der Outdoor-Sport, der mit Klettern, Kajakfahren oder Tauchen besondere Naturerlebnisse als Abenteuer und Selbsterfahrung verspricht, in Deutschland und in vielen anderen Ländern zum Modetrend geworden«, so Vogt. Und einen Schritt weiter gehen dabei all jene, die sich trauen, der wissenschaftlich verbrieften Wildnis-Sehnsucht, die tief im Menschen verankert ist, Platz in ihrem Leben einzuräumen. Und sei es nur für einen Tag oder ein Wochenende. Natur ist positiv besetzt und erstrebenswert. Die Autoren des Buches »Sehnsucht nach Natur« haben herausgefunden, dass derartige Erlebnisse, die physische und psychische Gesundheit fördern.

Die schlichte Feldforschung von Sven Gittermann hat ergeben: »Es gibt sehr viele suchende Menschen, die sich an etwas festhalten wollen. Und hier finden sie die Antwort.« Der Allgäuer zeigt auf den Großen Krottenkopf, die wilde Trettach, den dunklen Wald. Die einfachste Definition von Wildnis ist vielleicht schon die Abwesenheit von Mensch und Zivilisation, und das ist überraschend schnell erreicht. Keine 300 Meter Luftlinie von uns entfernt liegt der Startpunkt für den prominentesten Part der Weitwanderroute E5, den jedes Jahr im Sommer zigtausend Alpenüberquerer absolvieren. Wir kriegen von dem Trubel nichts mit und keiner der Wanderer kommt auf die Idee, einen Abstecher zu uns zum Fluss zu machen. Dabei führt sogar ein Weg hierher.

Manch einer würde bestimmt rüberkommen, wenn er wüsste, dass hier nicht nur Überlebens-, sondern auch Lebensschule stattfindet. Eine der Kernbotschaften der Wildnis-Philosophie lautet: Geh achtsam mit dir selbst um! Wer durch den Wald streift und stets auf der Hut vor Feinden oder der Ausschau nach Jagdobjekten sein muss, sollte seine Augen überall haben. Wie weit unser Sehfeld tatsächlich reicht, lässt sich mit einer simplen, aber erkenntnisreichen Übung schulen: Man reckt die Daumen vor sich und behält sie im Blick, während man die ausgestreckten Arme soweit wie möglich nach links beziehungsweise rechts bewegt. Wer diesen Ansatz verfolgt, lernt, die Umwelt anders wahrzunehmen. Der Blick ist nicht mehr nur stur nach vorne gerichtet, man entdeckt schöne, überraschende, neue Dinge abseits des vorgegebenen Weges. Mehr und mehr gerät das Wildnis-Camp zum Selbsterfahrungstrip.

Wir üben barfuß den Foxwalk (Fuchsgang), der sich zum Anschleichen eignet. Dabei setzt man zuerst den kleinen Zehen und den Außenfuß auf. Das hat den angenehmen Effekt, dass nicht gleich das ganze Körpergewicht auf den steinigen Untergrund drückt, was wehtut. Dabei bewegen wir uns sehr leise und nehmen die Geräusche im Wald intensiver wahr. Alle Sinne dürfen mitmachen beim Ich-entdecke-mich-und-die-Umwelt-völlig-neu. Die Gruppe schnüffelt sich durch den Wald auf der Suche nach Kräutern und Pflanzen. Löwenzahn ergibt feinen Salat, rosa Kleeblüten leckeren Tee, mit Dost können wir würzen, Mädesüß hilft bei Kopfschmerzen. Kleine Schnittwunde? Kein Problem. Man muss nur ein paar Blätter Schafgarbe kauen und auf die Haut geben. Ein Blatt vom Breitwegerich drauf, mit einem Grashalm zubinden und fertig ist das Wildnis-Pflaster.

Der Star der hiesigen Wildnisszene ist zweifelsfrei die gemeine Brennnessel. Sie enthält Vitamine und Eisen und stärkt angeblich unser Bewusstsein. Als Tee soll sie dem Menschen helfen, im Hier und Jetzt zu leben und nicht ständig nach vorn oder zurück zu blicken.

Wer Sven Gittermann eine Weile folgt, kann sich einen Reim darauf machen, warum es ausgerechnet im Allgäu so viele Wildnisschulen und -lehrer gibt. Denn bereits eine einfache Google-Abfrage spuckt knapp ein Dutzend Anbieter für die Region aus, mit denen man von Familien-Workshops bis Hardcore-Überlebenstraining alles machen kann. Das Wissen rund um das Thema Kräuter ist im Allgäu - im Gegensatz zu vielen anderen Regionen - nie ganz ausgestorben. Deshalb freunden sich gerade auch junge Menschen mit dem Thema an und lernen die Philosophie, die zum Beispiel bei »Native Spirit« in Nauders gelehrt wird, um anschließend einfach eine eigene Schule zu eröffnen.

Ein Großteil der derzeitigen Bewegung geht auf den US-Amerikaner Tom Brown zurück, der alle Kniffe von einem Indianer lernte und in die Welt hinaustrug. Es ist nicht überliefert, wie lange er beim ersten Mal brauchte, um ein Feuer zu entfachen. »Die Natur lehrt uns Menschen Geduld und Ruhe«, sagt Sven. Letzte Erkenntnis des Kurses: Auch wenn da draußen Dinge nicht funktionieren, man lernt stets etwas, das einen weiterbringt. Im Leben. Wenn’s im Ernstfall wirklich ums Überleben gegangen wäre, wären wir nämlich gescheitert. Zumindest ohne Sven. Er hat das Feuer in zehn Minuten hingekriegt. Danach war nur noch Grillen und Chillen. Gehört auch zur Wildnis.

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