nd-aktuell.de / 26.06.2021 / Reise / Seite 30

Auf dem Fluss zum Götterhain

Das grüne Urstromtal des Flüsschens Abava in der lettischen Provinz Kurland ist ein Natur-Schlaraffenland. Erkunden und genießen kann man es beim Wandern oder Radfahren, am besten aber mit dem Paddelboot

Carsten Heinke

Leises Glucksen. Wilde Bienen summen. Die Luft schmeckt nach Wacholder, Birken, Gras und Tannennadeln. Jetzt einfach die Augen schließen und sich fallen lassen... In der Nähe ruft ein Kranich. Laut und unverkennbar klingt sein Trompeten durch die menschenleere Weite Kurlands. Dann versinkt das Urstromtal der Abava erneut im Schweigen.

Die Stille ist betörend und so klar, dass man sie atmen möchte - in tiefen Zügen, genauso wie den Duft des Waldes und des kleinen Flusses im Nordwesten Lettlands. Ein Wohlgefühl von Ruhe, Reinheit und Geborgenheit durchströmt den ganzen Körper. Das sanfte Plätschern inspiriert zu einer Bade-Fantasie. Doch statt in einer Wanne wacht der verträumte Paddler in seinem Kanu auf. Nachdem es eine Weile vor sich hin trieb, hängt das Bötchen nun an einer umgestürzten Eiche fest.

Nur das Skelett des einst wohl imposanten Baumes ist geblieben. Seit seinem Tode, den vor langer Zeit ein Blitz verschuldete, liegt er halb im Fluss, halb auf dem Ufer. Der dicke, rindenlose Stamm wie auch die Stümpfe seiner Äste sind in der Tat so glatt und silbergrau wie Knochen.

Das Paddel nimmt der uneilige Wasserwanderer nun lieber wieder in die Hände. Nach wenigen Bewegungen ist er auf Kurs - und weiter geht es auf dem Flüsschen durch den Wald. So lautlos sich die Abava auch größtenteils bewegt, so deutlich zeigt sie doch bisweilen ihre Kraft und lässt das Kanu hier und da durch kleine Schnellen hüpfen. Unweit von dem Örtchen Sabile, auf dessen Sonnenhügel seit Ewigkeiten Wein gedeiht, erzwingt sie einen Stopp.

Im Kanu durch den Wald

Vor dem Paddler rauscht die Rumba, die mächtigste Stromschnelle der Abava. 35 Meter breit und einen Meter hoch ist das Dolomitplateau, über dessen scharfen Rand sie sich ergießt. Ein toller Badespaß, doch nichts für Boote, die man deshalb landen und um die Rumba tragen oder ziehen muss.

Ganz in der Nähe setzt im Frühjahr und im Herbst die Venta in Kuldīga ein fesselndes Naturschauspiel in Szene, wenn sich der Fluss über die - je nach Pegelhöhe - bis zu 240 Meter breite und zwei Meter hohe Stromschnelle Ventas Rumba ergießt. Schwärme von »fliegenden« Fischen glitzern dann im Sonnenlicht.

Mit Blick auf eine wunderbare alte Backsteinbrücke aus dem 19. Jahrhundert kann man hier an warmen Tagen herrlich baden und sich von den herabstürzenden Massen des mineralhaltigen Nasses im Sitzen oder Liegen sehr bequem massieren lassen. Auf dem Burgberg gleich daneben stand einst die stolze Burg der deutschen Ordensritter, später umgebaut zum Schloss.

Von hier aus regierten die kurländischen Herzöge ihr Reich, zu dem zeitweilig sogar Kolonien in Afrika und der Karibik zählten. Heute ist das Burg- und Schlossgelände ein kleiner Park. Unter hohen Bäumen, zwischen mittelalterlichen Mauerresten stehen steinerne und bronzene Skulpturen neben kleineren historischen Gebäuden mit Stadtmuseum, Restaurant und Kunsthaus.

Weiter geht die Bootstour auf der Abava und führt geradewegs wie auch per Kurven oder Schleifen durch den Wald, der den Fluss schon seit Jahrtausenden umsäumt. Neben turmhohen Tannenwänden und lichten Kiefernhainen sind Laub- und Nadelbäume vieler Arten zu erkennen.

Zarte Sprösslinge scharen sich um die, aus denen sie entstanden sind, finden Schutz im Schatten ihrer Ahnen, werden groß und warten, dass sie weichen, um deren Platz zu übernehmen. Zwischen all den Stämmen drängen sich im Sommer dichte Sträucher voller Beeren, Farne, Kräuter, wilde Blumen - und im Herbst, der hier schon im August beginnt, Pilze ohne Ende.

Einen Blick auf tierische Bewohner zu erhaschen, braucht Geduld und etwas Glück. Die größten Chancen auf Erfolg erlaubt die Dämmerung. Ab und zu erspäht man einen Fuchs, ein Reh. Auch Biber sowie Dachse lassen sich gelegentlich in Menschennähe sehen. Hirsche oder Elche machen sich dagegen rar. Glücklich kann sich schätzen, wer die Kamera im rechten Augenblick dabei hat - zum Beispiel, wenn plötzlich direkt über einem ein Schwarzstorch kreist.

Zauberwald und Hexenhöhlen

Das kurländische Urstromtal ist ein beliebter Brutplatz dieser raren, zauberhaften Vögel. Die alten Letten glaubten, dass schwarze Tiere Inkarnationen ihrer höchsten Göttin Māra seien. Eine ihrer wichtigsten Kultstätten befindet sich im Wald der Abava: die geheimnisvollen Höhlen Māras Kambari. Während dichtes Grün fast überall bis in den Fluss wächst, ist das Ufer hier so nackt und sandig wie ein Strand. Der Wasserwanderer legt an und zieht sein Boot darauf.

Nach knapp 100 Metern steht er vor den heiligen Sandsteinkammern, die im Laufe ihres langen Daseins immer kleiner wurden - teils durch die Kräfte der Natur, teils durch Menschenhand. Ihre Wände sind bedeckt mit vielen Schichten eingeritzter Initiale, Namen, Daten und geheimnisvoller Zeichen.

Obwohl sie offensichtlich immer nur dem einen Zwecke dienten, sich oder seine Angebeteten zu verewigen, unterscheiden die Gravuren sich doch erheblich voneinander. Die schönsten und kunstvollsten, oft kaum noch erkennbar, sind schon mehrere hundert Jahre alt. Viele wurden erst in jüngster Zeit von hässlichen Kritzeleien überdeckt.

Seit Kurzem nun kann man die Kammern von einer Plattform aus bestaunen. Zugleich soll dieses Holzkonstrukt vorm Zutritt zu den Höhlen schützen - und hoffentlich vor weiterer Beschädigung.

Trinken, bis die Tiere sprechen

Zahlreiche Mythen und Legenden ranken sich um diesen Ort der alten Baltengötter, an dem sich Hexen, Feen und Geister tummeln sollen. Angst davor muss niemand haben, denn im Volksglauben der Litauer und Letten ist nicht einmal der Teufel wirklich böse.

Trotz vielfach dunkler Töne wirkt auch der Wald der Abava im Ganzen hell und freundlich, besonders an den Sommertagen. Fast bis kurz vor Mitternacht dauern die längsten. Zur Sonnenwende sucht man hier wie überall in Lettland Kräuter, deren Kraft dann ganz besonders stark sein soll, sowie den Zauberfarn. Es heißt, er blühe nur in der Johannisnacht, wenn Himmelsvater Dievs und Erdmutter Māra Hochzeit feiern, Tiere sprechen können und alle Menschen sehr viel trinken und verrückte Dinge tun und sehen.