Weiße Nächte, weiße Kittel

Zirkus Europa: Jirka Grahl ist für »nd« an den Spielorten der Fußball-EM unterwegs

Do swidanja! Am Freitag verabschiedet sich Russland nun auch als Gastgeber von dieser Europameisterschaft. Die Fußballer der Sbornaja hatten ja nicht einmal die Gruppenphase überstanden, nun wird in der St. Petersburger Gazprom-Arena zum sechsten und letzten Mal ein Match der EM angepfiffen: Spanien gegen Schweiz.

Die Russen selbst zucken nur die Schultern: Sie haben sich nie recht für die EM erwärmen können. Zum einen wegen der unvorteilhaften Auftritte der eigenen Fußballer (»Naschi« - Betonung auf dem A - nennen sie hier die Kicker, übersetzt »Unsere«), zum anderen wegen der teuren Tickets. Bei 407 Euro liegt umgerechnet das monatliche Durchschnittseinkommen. 50, 125 oder 185 Euro verlangte die Uefa je nach Kategorie für Gruppenspiele in St. Petersburg. »Das ist für die meisten Einheimischen viel zu viel«, erzählt mir Jelena Erkina. Die junge Petersburgerin arbeitet ehrenamtlich im Unterstützerklub der russischen Nationalmannschaft. »Wenn sich niemand das Stadion leisten kann, wie soll da Begeisterung entstehen?«, fragt sie. Und erinnert sich mit Wehmut an die Heim-WM 2018. Da sei die Stimmung im Land eine ganz andere gewesen, auch, weil der Weltfußballverband Fifa eigens eine eigene Kategorie für Russen eingeführt hatte. Statt umgerechnet 80 Euro für die billigsten Eintrittskarten hatten Russen damals nur 15 Euro zahlen müssen. »2018 waren die Russen Feuer und Flamme für ein Turnier, das sie selbst auch besuchen konnten«, so Jelena. Hach, 2018, der selige Sommer! In dem Mexikaner, Franzosen und Amerikaner sich mit den Einheimischen verbrüderten und auf den Straßen Feste feierten! Die Russen staunten damals, wie freundlich sie selbst doch sein können, sogar die eigenen Polizisten guckten weniger mürrisch drein als sonst.

2021 hingegen herrscht Corona: Für das Viertelfinale am Freitag haben sich kümmerliche 200 Fans aus Spanien und 700 Schweizer angekündigt. »Die Schweizer wollen wohl einen kleinen Fanmarsch veranstalten«, berichtet Jelena, »vom Springbrunnen auf der Krestowskij-Insel bis zum Stadion«. Aber in aller Vorsicht: In St. Petersburg steigen derzeit die Infektionszahlen wegen der grassierenden Delta-Variante. Anders als in Moskau, wo schon strengere Auflagen gelten, sind in »Piter« nicht viele Gegenmaßnahmen ergriffen worden - außer der Auflage für Restaurants, nachts mindestens vier Stunden zu schließen. Die weißen Nächte in Petersburg werden zelebriert wie eh und je, die Leute flanieren zu Tausenden über den Newski-Prospekt und feiern den Sommer und das Leben - zuletzt in Massen beim Fest des »Roten Segels«, bei dem die Abiturienten der Fünfmillionenstadt mit einem Feuerwerksspektakel auf der Newa geehrt wurden.

Auch 2500 finnische Fans feierten in den ersten Tagen der EM in St. Petersburg mit, weil ihr Team dort zweimal antreten musste. Mittlerweile sind immerhin 309 von ihnen nach der Rückreise positiv getestet worden, sechs werden im Krankenhaus behandelt, zwei sogar intensivmedizinisch. »Und ein paar Infizierte sitzen noch in ihren Petersburger Airbnb-Wohnungen und warten, dass die Quarantäne abläuft«, erzählt mir Jussi Hartikainen vom Fanklub der finnischen Mannschaft am Telefon. »Sie werden in Russland behandelt. Nix Ernstes aber.«

Nix Ernstes - zum Glück, denke ich, und erinnere mich an meine kurze Bekanntschaft mit dem russischen Gesundheitssystem: Ich hatte mich am Fingernagel verletzt, ein Minischnitt, aber eben mit den vier Klingen eines Rasierers durch einen Fingernagel hindurch, es blutete doch ziemlich. In meinem Petersburger Zwei-Sterne-Hotel gab es leider kein Pflaster, geschweige denn Verbandszeug. Ich stillte die Blutung also nur mit einer Serviette und lief zur Fanzone, die zum Glück direkt nebenan lag. Hier sollte es doch Sanitäter geben? Richtig, da war ein Container. Ich platzte herein. Zwei Männer, eine Frau, sie verstummten und starrten mich erschrocken an. War ich ihr erster Patient?

In einem Russisch-Englisch-Mix erklärte ich mein Malheur. Der jüngere, dickliche Sanitäter nickte, meinen Finger rührte aber erst mal keiner an. Während der Dickliche und sein glatzköpfiger Kollege ein Formular zückten, kramte ihre Kollegin fortan wild in einem Materialschrank herum - auf der Suche nach Verbandszeug. Hallo!? Ich blute! Man schien hier nicht mit derlei gerechnet zu haben. Die Frau wühlte sich durch die Bestände, die Männer gingen die Formalitäten an. Vorname? Nachname? Woher? Passnummer? Seit wann sind Sie hier?

Irgendwann unterschrieb ich und die drei wandten sich gnädig meinem Mittelfinger zu. Der Dickliche gab Anweisungen, der Glatzköpfige widersprach, die Frau wickelte mit unsicherer Hand den Verband um meinen Finger. Drei verschiedene Verbände kamen zum Einsatz, der Winkel eines jeden Schnittes mit der Schere wurde beraten. Nach einer halben Stunde verließ ich den Container mit einem locker sitzenden Verband, über den meine Frau, eine Krankenschwester, wohl gelacht hätte. Das Desinfizieren hatten sie ganz und gar vergessen. Weiße Nächte in St. Petersburg? Gerne! Weiße Kittel? Lieber nicht.

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