nd-aktuell.de / 03.07.2021 / Politik / Seite 18

Wir sind die Roboter

Industrie 4.0 und »die Digitalisierung« versprechen als Schlagworte die völlige Veränderung der Arbeitswelt, gar das Ende der Arbeit. Doch die Realität ist eine andere - wie das Beispiel des Automobilkonzerns Daimler zeigt. Eine Abrechnung

Peter Schadt

Vor zehn Jahren fiel zum ersten Mal das Schlagwort der »Industrie 4.0«, als PR-Aktion der Hannover Messe. Heute ist es so zentral, dass es in jedem Wahlprogramm vorkommt: Die CDU will die Digitalisierung gestalten mit einem »Ministerium für digitale Innovationen und Transformationen«, die Grünen wollen einen Rechtsanspruch auf schnelles Internet einführen und die SPD verspricht dazu noch Laptops für alle Schüler. Einerseits sind also alle Parteien für die Digitalisierung, andererseits gibt es bis heute sehr verschiedene Prognosen zur Frage, wie sich Arbeitsbedingungen und -plätze in Zukunft durch »die Digitalisierung« verändern werden. Höchste Zeit, diese Prognosen mit ihren Selbstwidersprüchen und der kapitalistischen Realität zu konfrontieren.

Vage Prognosen

Die meisten »Zukunftsanalysten« halten sich an die bewährten Regeln ihrer Zunft, die auch beim Geschäft mit der Glaskugel auf dem Jahrmarkt üblich sind: So vage bleiben, dass der Adressat seine Wünsche und Ängste wiederfinden kann und schwer beeindruckt von der Prognosekraft des Gesagten ist. »Die Digitalisierung wird sowohl die Produktion als auch die Produkte der Automobilindustrie grundlegend verändern«, weissagte zum Beispiel noch 2019 das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation. Gerne werden derartige Vorhersagen mit einem epochalen Duktus garniert, der die federleichte Leere des Inhalts mit dem Bleigewicht des Weltschmerzes ergänzt. Meister dieser Sorte Rhetorik ist qua Beruf der Gründer des Weltwirtschaftsforums Klaus Schwab, für den die Digitalisierung mit »nichts Geringerem als einem tiefgreifenden Wandel der menschlichen Zivilisation einhergeht«.

Ergänzt wird die öffentliche Debatte mit Aussagen, welche die Vagheit der bisher vorgestellten Prognosen durch konkrete Zahlen ergänzen. Einziger Haken: Das Pendel des Orakels schlägt auch hier in beide Richtungen aus. »Die Digitalisierung« wird entweder die Jobzahl in Deutschland im »unteren 100 000er-Bereich« erhöhen oder aber es ist »jeder zweite Arbeitsplatz gefährdet«, wie in einer Studie des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung von 2018 nachzulesen ist. Und spätestens seit dem Buch »Postkapitalismus« des britischen Journalisten Paul Mason steht zudem die Behauptung im Raum, dass »die Digitalisierung« die Arbeit und gar den Kapitalismus auf den Misthaufen der Geschichte werfen werde.

Auch über die Qualität der neuen digitalen Jobs ist wenig beziehungsweise alles bekannt: Sie »erleichtern die Vereinbarkeit von Beruf und Familie«, sei es durch Homeoffice, wie Arbeitgeber es gerne betonen, oder durch »radikale Arbeitszeitverkürzung«, wie es die Gruppe »Emanzipation und Frieden« fordert. Und in einem anderen Besinnungsaufsatz - manchmal sogar in demselben, ein paar Seiten weiter - wird von dem genauen Gegenteil schwadroniert. Harald Welzer warnt im gleichnamigen Aufsatz vor einer »Kolonisierung der Lebenswelt« durch permanente Erreichbarkeit, die zu einer Entgrenzung der Arbeit und damit zu einem Ende des bisherigen Alltagslebens führe. Hartmut Hirsch-Kreinsen, eines der Schwergewichte in der Soziologie zum Thema Industrie 4.0, hält beides für möglich und konstatiert, dass »der Prozess der Digitalisierung der industriellen Produktion keine eindeutigen Folgen für die Arbeit nach sich zieht«.

Selbstwidersprüche der Digitalisierung

Zukunftsforscher und weitere »Experten« können sich über Folgen und Wirkungen »der Digitalisierung« nicht einig werden. Das liegt daran, dass sie den Untersuchungsgegenstand nicht begreifen. Wenn »die Digitalisierung« angeblich Jobs überflüssig macht, »uns« zwingt, »Hierarchien aufzugeben«, oder gar Tarifverträge nicht mehr zu ihr passen, dann ist man mit diesen Phrasen weit weg vom wirklichen Geschehen.

»Die Digitalisierung« taucht in der öffentlichen Debatte doppelt auf. Einerseits firmiert sie als Bezeichnung für den Prozess, der alles verändern und Arbeitsplätze wahlweise schaffen oder abschaffen soll. Andererseits soll die Digitalisierung gleichzeitig auch das Subjekt sein, dass diese Veränderungen ins Werk setzt und »uns«, also die Unternehmen gemeinsam mit den Beschäftigten, »zwingt«, anders zu arbeiten. So verschwinden jegliche Akteure aus der Erzählung und werden durch den Prozess selbst ersetzt. Mit dem Scheinsubjekt Digitalisierung sprachlich ausgerüstet ist es nicht mehr der Daimler-Konzern, der die neue digitale Technik einsetzt, um seine Wertschöpfung voranzubringen - also die Produktion zu verbilligen, indem die Produktivität erhöht wird -, sondern der Autobauer ist zusammen mit seinen Beschäftigten von der »Digitalisierung« betroffen.

Ein erster Schluss lautet: »Die Digitalisierung« schafft weder Arbeitsplätze noch entlässt sie Arbeiter - das ist noch immer das Privileg derjenigen Konzerne, von deren Wachstum in dieser Gesellschaft alles abhängig gemacht wird. Die neue digitale Technik mag ihnen willkommenes Mittel sein, um ganze Belegschaften durch Roboter zu ersetzen, der Grund für diese Entlassungen ist allerdings in den Kalkulationen der modernisierten Industrie zu suchen und nicht in den Bits und Bytes der mechanischen Schrauber und Träger. Die Digitalisierung ist ein Scheinsubjekt.

Die kapitalistische Realität

Um etwas über den Einsatz der neuen digitalen Technik zu erfahren, hilft der Blick auf die real existierenden Akteure des bundesdeutschen Kapitalismus. In deren Vorzeige- und Schlüsselbranche Autoindustrie gab Ola Källenius, der Vorstandsvorsitzende der Daimler AG, bereits im vergangenen Jahr zur Bilanzpressekonferenz zu verstehen, wie er mit Coronakrise und Umstieg auf Elektromotor umzugehen gedenke: Ein »Sack voll Arbeit« sei zu erledigen, vor allem im Personalbereich. Denn dort sollen ab 2020 jährlich 1,4 Milliarden Euro gespart werden. Ob die bisherige Arbeit dank neuer Technik und Verdichtung der Arbeit dann mit 10 000 Mitarbeitern weniger erledigt werden kann oder sogar mehr als 15 000 Arbeiter ersetzt werden, lässt er offen. Auf jeden Fall werden sie »nicht mit dem Rasenmäher, sondern intelligent« entlassen - für alle intelligent auf die Straße Gesetzten bestimmt eine Erleichterung.

Während neue Maschinen und digitale Vernetzung auf der einen Seite die Produktivität erhöhen, werden auf der anderen Seite »intelligent« Arbeitsplätze abgebaut. Das heißt, dass freiwerdende Stellen bei Daimler nicht mehr besetzt werden und so von der restlichen Belegschaft »aufgefangen« werden. Die Arbeit für die Restmannschaft wird verdichtet. Die richtig eingesetzte Digitalisierung hilft dabei, dass Mitarbeiter mehr Prozesse als bisher gleichzeitig überwachen können und Produktionsunterbrechungen dank - ebenfalls »intelligenter« - Vernetzung reduziert werden. Daimler selbst nennt das »360-Grad-Vernetzung« und spricht von einem »komplexen Geflecht« von 87 Rohbaufertigungsanlagen mit 2400 Robotern und 50 000 Netzwerkteilnehmern. Das ist gut für die Produktionszahlen, weil es keine Unterbrechungen mehr gibt, dank Echtzeitkommunikation. Das heißt für die Arbeiter, dass die Pausen wegfallen. Die sind nämlich nur ein schöneres Wort für Unterbrechungen in der Produktion.

Einweisungen und Umschulungen können dank »Augmented Reality« ersetzt werden. So wird zum Beispiel durch aufleuchtende Punkte in der vernetzten Datenbrille - selbst für Laien verständlich - direkt angezeigt, wo in der Produktionsstraße ein Teil verschraubt werden muss. Der Erfolg dieser und anderer Maßnahmen war so durchschlagend, dass Wilfried Porth, Personalvorstand von Daimler, im Sommer 2020 davon spricht, dass die bisher kolportierten 10 000 oder 15 000 Arbeitsplätze, die Berichten zufolge wegfallen sollen, nicht ausreichen: »Die neue Zahl ist auf jeden Fall größer als die beiden.« Abgewendet wird das dann nur, indem die Arbeitszeit für alle Mitarbeiter im indirekten Bereich um zwei Stunden reduziert wird - wie auch die Bezahlung, selbstredend. Ebenfalls gestrichen wird die zumeist mehrere Tausend Euro umfassende »Ergebnisbeteiligung«, die bei Daimler nun der Vergangenheit angehört. Das führt dazu, dass der Konzern im Februar 2021 mit 10 000 Mitarbeitern weniger bei geringerem Umsatz wieder solide 6,6 Milliarden als operatives Ergebnis erzielt. Und Källenius kündigt an, was er nun plant: »unsere Personalkosten weiter senken«.

Aus der Personalpolitik bei Daimler im vergangenen Jahr lässt sich ebenfalls ein Schluss ziehen: Wer sich nicht von der Seite der Technik her der Sache annimmt und in luftigen Höhen von möglichen Potenzialen »der Digitalisierung« fabuliert, entdeckt die digitale Technik als ein weiteres »Tool« im »Werkzeugkoffer« der CEOs zur profitablen Herrichtung der eigenen Belegschaft. Da mag die digitale Technik noch so sehr das Potenzial haben, die Arbeit einfacher zu machen - erfunden und eingesetzt wird sie, damit weniger Personal in weniger Stunden mehr herstellen kann. Den Daimler-Beschäftigten geht nicht die Arbeit aus. Umgekehrt: Für die verbliebene Belegschaft steht dank Verdichtung Arbeit ohne Ende an.

Ende der Arbeit?

Deutet sich bei Daimler das an, was Mason das »Ende der Arbeit« genannt hat, nämlich dass immer weniger Arbeitsplätze geschaffen werden und die Arbeit irgendwann überflüssig wird? Dieser Eindruck verdankt sich einmal mehr der Ignoranz gegenüber den Akteuren, welche »die Digitalisierung« immer nur dort einsetzen, wo es sich lohnt. Noch für die simpelsten Tätigkeiten werden auch im Jahr 2021 und den folgenden Menschen statt Maschinen eingesetzt, insofern sie sich als billiger erweisen. So hat die Erfindung der mechanischen Webstühle im 18. Jahrhundert bis heute den Beruf der Näherin beispielsweise in Bangladesch nicht überflüssig gemacht. Und wenn Daimler genügend Arbeiter »eingespart« hat und die Konkurrenz der Arbeiter im industriellen Süden der BRD entsprechend steigt, dann können dort die Lohnkosten insgesamt so massiv einbrechen, dass sich die eine oder andere Handarbeit doch wieder lohnt. Auch an dieser Front ist kein Ende der Arbeit in Sicht - zumindest nicht, solange die Digitalisierung nichts als ein Mittel des Kapitals zur Profitsteigerung ist.