nd-aktuell.de / 09.07.2021 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 15

Leipziger Kohleausstieg

Stadt will sich bei Fernwärmeversorgung durch Neubau bereits ab 2022 von Kohlekraftwerk abkoppeln

Hendrik Lasch

Der Neustart erfolgt im Schatten der fossilen Vergangenheit. Wuchtig ragen im Süden von Leipzig die Reste eines Kraftwerks auf, das ab 1910 die Stadt mit Strom und Wärme versorgt hatte - wofür bis Ende der 1990er Jahre Braunkohle verfeuert wurde. Davor entsteht ein neues Kraftwerk. Die Turbinenhalle ist im Rohbau fertig; auch die Fundamente eines 60 Meter hohen runden Turms sind gegossen, in dem später heißes Wasser gespeichert werden kann. Ende 2022 soll das Kraftwerk ans Netz gehen. Es ist ein Ereignis von großer politischer Bedeutung: Die Großstadt Leipzig mit ihren mehr als 600 000 Einwohnern vollzieht damit bei der Wärmeversorgung den Ausstieg aus der Braunkohle.

Derzeit werden 220 000 Haushalte in der Stadt mit Fernwärme versorgt. Bezogen wird diese zum allergrößten Teil aus dem Kraftwerk Lippendorf südlich von Leipzig. Die im Jahr 2000 eingeweihte und vom Energieunternehmen Leag betriebene Anlage gilt als vergleichsweise modernes Kohlekraftwerk, ist aber dennoch die siebtgrößte Quelle von klimaschädlichem Kohlendioxid in der Europäischen Union. Dass es mehr oder weniger dauerhaft betrieben werden kann, liegt nicht zuletzt an der Bedeutung für die Wärmeversorgung von Leipzig. Sie begründet die »Systemrelevanz« des Kraftwerks, die dessen Betrieb auch zu Zeiten erlaubt, in denen Wind- und Solarkraftwerke genug Strom liefern.

Das Feigenblatt entfällt in naher Zukunft. Leipzigs Stadtrat rief im Herbst 2019 den Klimanotstand aus. Seither haben Maßnahmen zur Begrenzung des Klimawandels hohe Priorität. Ein Schritt ist, die Wärmeversorgung von der Braunkohle abzunabeln. Schon ab 2022 und damit 16 Jahre vor dem gesetzlich geregelten Braunkohleausstieg in Deutschland soll der Großteil der Fernwärme im neuen Kraftwerk Leipzig Süd erzeugt werden: von zwei jeweils 62,5 Megawatt starken Turbinen, die mit Erdgas befeuert werden.

Erdgas ist zwar ebenfalls ein fossiler Energieträger. Die Erzeugung einer Kilowattstunde verursacht aber nur 550 Gramm CO2 gegenüber 1150 Gramm bei Braunkohle. Im Fall des Leipziger Neubaus sei auf höchste Effizienz und minimale Emissionen geachtet worden, sagt Thomas Brandenburg, Projektleiter bei den Stadtwerken Leipzig. Er spricht vom »saubersten Kraftwerk weltweit«. Ebenso wichtig ist, dass es nur bei Bedarf und dann binnen Minuten hochgefahren werden kann. Im Jahr wird damit nach Angaben des BUND gerade so viel CO2 frei, wie einer der zwei Kraftwerksblöcke in Lippendorf binnen 15 Tagen ausstößt. Der Umweltverband geht davon aus, dass mit dem Bau des Gaskraftwerks der »Übergang zu erneuerbaren Energien deutlich erleichtert« wird. Er animiert Unterstützer, als Stromkunden zu den Stadtwerken zu wechseln, wenn diese den Kohleausstieg bei der Fernwärme tatsächlich vollziehen. Die Dekarbonisierung der Wärmeversorgung gilt als wichtiger, aber oft unterschätzter Teil der Energiewende. Auch Landespolitiker wie Thomas Schmidt (CDU), Sachsens Minister für Regionalentwicklung, sind angetan. Die Stadtwerke Leipzig trieben den »Einstieg in den Ausstieg« aus der Braunkohle in Sachsen »wesentlich voran«, sagte er bei einem Besuch auf der Baustelle.

Geht es nach den Stadtwerken, wäre das neue Kraftwerk freilich nicht nur eine Übergangslösung, sondern könnte zum Modellprojekt für die Energie- und Wärmeversorgung in einem postfossilen Zeitalter werden. Entscheidender Punkt dabei ist, dass die Turbinen des neuen Kraftwerks »von Anfang an« auch mit Wasserstoff betrieben werden können, sagt Brandenburg. Die Idee der Projektverantwortlichen ist es, diesen am Standort im Leipziger Süden zu erzeugen - aus Wasser und Ökostrom. Die Anlagen für die Elektrolyse könnten im einstigen Kohlekraftwerk installiert werden. Der Wasserstoff ließe sich an Ort und Stelle speichern, was einen Weiterbetrieb des Kraftwerks auch in Zeiten der so genannten »Dunkelflaute« ermögliche, wenn Sonne und Wind vorübergehend nicht ausreichend Strom liefern. Alternativ ließe er sich in Pipelines einspeisen, die andere Abnehmer etwa in der Industrie versorgen. Am Standort könnte auf diese Weise die erste Demonstrationsanlage dieser Größenordnung in Deutschland für ein »komplett grünes Energiesystem« entstehen, sagt Brandenburg. Solche Anlagen seien wichtig, um die Technologie in großem Maßstab zu erproben. Eine entsprechende Finanzierung vorausgesetzt, könnte die Anlage binnen vier Jahren genehmigt und errichtet sein.

Zunächst muss freilich das Kernstück fertig gebaut werden: das Gaskraftwerk. Im Mai und Juni 2022 soll der Probebetrieb beginnen - in einer Zeit, in der eigentlich keine Fernwärme benötigt wird, sagt Brandenburg und scherzt: »Da muss jeder trotzdem mal die Heizung aufdrehen.« Ab Herbst sollen dann die Anlagen regulär ans Netz gehen. In Betrieb genommen wird das Kraftwerk vor allem zu Zeiten, in denen der Preis für den erzeugten Strom günstig ist und der Bedarf aus Wind und Sonne nicht gedeckt wird. Es gebe eine »starre Kopplung« von Strom- und Wärmeproduktion, sagt Brandenburg. Die Wärme kann in Form von 100 Grad heißem Wasser in dem Speicherturm quasi eingelagert werden, bis genügend Kunden ihre Heizungen aufdrehen. Den Wirkungsgrad des neuen Kraftwerks beziffert Brandenburg auf 93 Prozent; die für ein Braunkohlenkraftwerk vergleichsweise effiziente Anlage in Lippendorf bringen es auf 42 Prozent.