nd-aktuell.de / 10.07.2021 / Sport / Seite 28

Zellkraftwerk statt Zaubertrank?

Effektiver Mitochondrienstoffwechsel soll die aktuell erstaunliche Frische des Titelverteidigers Tadej Pogačar bei der Tour de France erklären

Tom Mustroph, Carcassonne

Einen kleinen Einbruch hatte Tadej Pogačar bisher bei dieser Tour de France. Über weite Strecken ist er aber der stärkste Fahrer. Das gibt auch die Konkurrenz zu. »Er fährt in einer eigenen Liga«, stellte Richard Carapaz fest. »Man hat den Eindruck, er spielt mit uns«, konstatierte unüberhörbar frustriert der Spanier Enric Mas. Sieht man ihnen neben dem Ärger, dass die Tour nicht so läuft wie erhofft, auch die physischen Strapazen an, so sind auf dem jugendlichen Antlitz des Gesamtführenden Erschöpfungsspuren kaum auszumachen. Wie lang ein Rennen auch ist, wie anstrengend es war, wie sehr er sich selbst verausgabt hat - Pogačar sieht im Ziel eines Rennens oft noch so frisch und munter aus, dass man ihm zutrauen würde, gleich noch eine weitere Etappe ranhängen zu können.

Natürlich, Pogačar ist ein Talent, ein großes sogar. Aber auch Talente entfalten sich besser, wenn das Feintuning stimmt. Für das physiologische Feintuning bei UAE Team Emirates ist Iñigo San Millán zuständig. Der Baske hat selbst eine Radsportvergangenheit. Seit mehr als zehn Jahren forscht er aber in den USA zu Therapien gegen Diabetes und Krebs. Dabei hat er sich tiefer mit der Wirkungsweise der Mitochondrien auseinandergesetzt. Das sind Zellbestandteile, die für die Energiegewinnung zuständig sind. Sie produzieren ATP, den universellen Energieträger im menschlichen Körper. »Das Spannende ist, dass die Mitochondrien von Ausdauerathleten perfekt arbeiten. Bei Patienten mit Diabetes oder Tumoren kommt es aber zu Fehlfunktionen der Mitochondrien«, erklärt San Millán in einem ausführlichen Podcast über seine Arbeit. Sein Ziel sei es, erzählt er, aus dem Vergleich von perfekt und nicht perfekt funktionierenden Mitochondrien die Wirkungsweise der Krankheiten auf zellulärer Ebene besser zu verstehen, und daraus dann auch neue Diagnose- und Therapieansätze zu entwickeln.

Ein Beiprodukt ist das Feintuning von Ausdauerathleten. »Ja, das bringt tatsächlich etwas. Die Methode ist effektiv«, erzählt Jereon Swart, Coach beim Rennstall UAE und auch bei der Tour de France dabei, dem »nd«. Das Mitochondrientraining finde vor allem im Winter und frühen Frühjahr statt. »Die Fahrer machen dann sehr spezifische Trainingseinheiten, am Anfang mindestens vier Tage die Woche einige Stunden in einer speziellen Intensitätszone. Es erweitert die Sauerstoffaufnahmekapazitäten in dem Bereich, in der wir den maximalen Sauerstofffluss im Kohlenhydratstoffwechsel haben. Wir stimulieren die Masse an Mitochondrien, die daran beteiligt ist«, erläutert Swart weiter. Die Intensitätszone, um die es geht, liegt eher im unteren Bereich. »Es geht darum, eine begrenzte Leistung länger zu bringen, auf den langen Anstiegen der Tour zum Beispiel«, sagt er.

Was da genau in Sachen Energiebereitstellung und -verbrauch geschieht, erläutert San Millán an einem Vergleich mit einem Fahrzeugmotor. »In dieser Trainingszone stimuliert man die langsamen Muskelfasern am meisten. Das ist wie der erste Gang beim Auto. Wenn man dort im roten Bereich ist, fordert das Auto einen ja meist auf, in den zweiten Gang hochzuschalten. Im Training macht man das aber nicht. Und deshalb wird der Körper stärker. Er passt sich an, wird kräftiger in diesem Gang.« Vor allem greift die Arbeit in diesem »ersten Gang« auf andere Energiereserven zu, auf Fette und Kohlenhydrate. Die wertvolleren Glukosevorräte, die für den »zweiten Gang«, also die explosiveren Antritte, benötigt werden, bleiben unberührt.

Auf die Tour de France angewandt bedeutet dies, dass Pogačar und Co aufgrund ihres gezielten Mitochondrientrainings manchen Anstieg noch im ersten Gang hochkommen, während die Konkurrenz schon hochschalten muss. »In dem Moment, in dem man zu den schnelleren Muskelfasern überwechselt, kann die Energienachfrage nicht mehr durch Fett befriedigt werden. Man muss auf einen anderen Brennstoff zugreifen. Wir sehen in diesem Moment einen Abbau an Fettverbrennung und einen Anstieg des Glukoseverbrauchs«, hat San Millán beobachtet.

Soweit die Theorie. Bei den Rennfahrern selbst kommt dabei nicht unbedingt etwas an. Pogačars Teamgefährte Brandon McNulty bemerkte auf Nachfrage von »nd« keine relevanten Veränderungen in seinem Körper aufgrund des neuen Mitochondrientrainings. »Wir trainieren ganz normal, essen ganz normal, die klassische Vorbereitung«, meint der US-Amerikaner. Bei Fahrern anderer Rennställe sind Mitochondrien ohnehin kein Thema. »Keine Ahnung, das ist neu, und zumindest bewusst mache ich so etwas nicht«, sagt der Däne Jakob Fuglsang. Und der Berliner Simon Geschke erklärt gegenüber »nd«: »Davon habe ich noch nie was gehört. Ich kann nichts sagen dazu, ich bin kein Biologe.«

Die Coaches von anderen Rennställen beschäftigen sich aber schon mit dem Thema. »Man muss sich als Trainer intensiv mit dem Stoffwechsel auseinandersetzen, um zu wissen, welchen Effekt man mit welchem Training erreicht. Das beginnt auf der Zellebene«, meint Dan Lorang, Trainer des Ravensburger Rundfahrers Emanuel Buchmann, zu »nd«. Auch er guckt also, was die Zellen zum Training sagen. Das ist ein weiterer Schritt in der Verwissenschaftlichung des Radsports. Lorang stellt aber auch klar: »Es gibt kein Wundertraining. Die neuen Erkenntnisse erklären nur besser, wieso das Training, das man gemacht hat, so wirkt, wie es eben wirkt.«

Natürlich muss man an dieser Stelle auch darauf hinweisen, dass der Manager des UAE-Rennstalls Mauro Gianetti in der Vergangenheit als Betreuer von Turbodopern wie etwa Riccardo Riccò auffiel. Man muss ihm zugleich zugestehen, alternative Wege zur Leistungssteigerung auszuprobieren. Mitochondrientraining ist aktuell nicht verboten. Es ist auch kein Grund dafür in Sicht. Training in den unteren Intensitätszonen ist Bestandteil ganz normaler Aufbauzyklen. Mit der Expertise vom Mitochondrien-Forscher San Millán geht die Analyse nur tiefer. Wenn daraus sogar noch neue Therapien gegen Tumore und Diabetes entstehen, wird die Leistungsverbesserung im Radsport sogar noch nützlich für die Allgemeinheit.