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Ein Lebenselixier

70 Jahre Internationale Föderation der Widerstandskämpfer: Der Historiker Ulrich Schneider über Antifaschismus einst und heute

Vor 70 Jahren gründete sich in Wien die Fédération Internationale des Résistants (FIR), die Internationale Föderation der Widerstandskämpfer. Wer waren die Gründungsväter, Gründungsmütter?

Es waren Frauen und Männer aus dem europäischen Partisanenkampf und dem antifaschistischen Widerstand, Deportierte und Häftlinge des faschistischen Lagersystems und Familienangehörige, die als Vertreter ihrer nationalen Widerstandsverbände aus Ost und West zusammenkamen. Sie repräsentierten verschiedenste Verfolgtengruppen und politische Orientierungen. Gemeinsam war ihnen, dass sie das Vermächtnis der Überlebenden als politische Richtschnur betrachteten.

Interview

Ulrich Schneider, 1954 in Bremen geboren, studierte Geschichte und promovierte sich zum Doktor der Philosophie mit der Schrift »Die Bekennende Kirche zwischen ›freudigem Ja‹ und antifaschistischem Widerstand«. Der Autor zahlreicher Zeitschriftenaufsätze und Bücher über Faschismus und Antifaschismus sowie Geschichtsrevisionismus ist einer der Bundessprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VNN-BdA) und Geschäftsführer der Lagergemeinschaft Buchenwald-Dora/Freundeskreis sowie Herausgeber von deren Zeitschrift »Glocke vom Ettersberg«. Seit 2003 ist der deutsche Historiker zudem Generalsekretär der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR). Mit Ulrich Schneider sprach Karlen Vesper.

Erstaunlich, dass es zur Konstituierung einer solchen Dachorganisation erst sechs Jahre nach dem Krieg kam. Die alten Nazis und deren Kollaborateure waren wesentlich früher vernetzt.

Das ist nicht ganz richtig. Die erste Organisation der Überlebenden, die FIAPP, Fédération Internationale des Anciens Prisonniers Politiques, mit Sitz in Warschau, gab es bereits 1946. Nazigegnern aus ganz Europa war schon damals klar, dass sie nur dann Einfluss auf den antifaschistisch-demokratischen Neubeginn nehmen könnten, wenn sie sich gemeinsam in den politischen Auseinandersetzungen zu Wort melden. Sie hatten im »Schwur von Buchenwald« oder im »Vermächtnis von Mauthausen« politische Eckpunkte formuliert, für die sie - ungeachtet ihrer Parteizugehörigkeit - gemeinsam einzutreten gedachten. Doch der Kalte Krieg seit 1946/47 hatte natürlich Auswirkungen auf die Arbeit der FIAPP. Spaltungsversuche durch US-Geheimdienste und deren Verbündete in den westeuropäischen Staaten sowie Auseinandersetzungen innerhalb der sozialistischen Staaten blieben nicht folgenlos. Von daher war die Gründung der FIR 1951 ein Versuch zur Wiederherstellung der antifaschistischen Gemeinsamkeit des Jahres 1945. Wie wir heute sehen, ein erfolgreicher.

Was waren, was sind die vornehmlichsten Aufgabenfelder der FIR?

Die zentrale Frage Anfang der 50er Jahre war die Verhinderung eines neuen »heißen« Krieges. So war der Gründungskongress der FIR im Sommer 1951 in Wien eigentlich ein Friedenskongress der Widerstandsbewegung. Es ging darum, alle Möglichkeiten zu ergreifen, in Europa eine neuerliche militärische Konfrontation zu verhindern. Schon im März 1950 war mit dem Stockholmer Appell zur Ächtung der Atombombe ein wichtiges politisches Signal gesetzt worden. Nun meldeten sich die Verfolgten des Naziregimes und die Kämpfer gegen die faschistische Barbarei im Friedenskampf zu Wort.

Das zweite große Thema war und ist die Bewahrung der Erinnerung an den antifaschistischen Widerstand sowie Widerstand gegen das Wiederauftreten alter und neuer Nazis insbesondere in Italien und der BRD sowie gegen die Rehabilitierung faschistischer Kollaborateure in verschiedenen europäischen Ländern.

Damals gab es noch einen weiteren Aspekt, der heute wenig bekannt ist: die medizinische Betreuung von Verfolgten des Naziregimes, besonders der KZ-Häftlinge. In den 50ern und 60ern führte die FIR in Prag und Paris mehrere bedeutende Kongresse mit medizinischen Koryphäen durch, die sich mit gesundheitlichen Langzeitschäden von Verfolgung und Haft sowie Therapie beschäftigten.

Gibt es spezifische Unterschiede in der Aufarbeitung in den verschiedenen europäischen, aber auch den lateinamerikanischen Ländern?

In der Tat unterschiedet sich die Aufarbeitung in den verschiedenen Ländern und Kontinenten. Aus Lateinamerika ist bekannt, dass dort lebende Nazigrößen nach dem Krieg einflussreich blieben, deutschen Faschisten Unterschlupf organisierten und gleichzeitig verschiedenen diktatorischen Regierungen als Berater zur Verfügung standen. In den europäischen Ländern entwickelte sich die Aufarbeitung von Okkupation und Kollaboration unterschiedlich. Insbesondere in der Hochphase des Kalten Krieges war in Westeuropa die Bereitschaft zur öffentlichen Abrechnung deutlich eingeschränkt. Über die Renazifizierung von Verwaltung und Sicherheitsapparat der BRD muss ich an dieser Stelle nicht extra etwas sagen.

Es blieb wohl nicht nur bei der Aufarbeitung der Vergangenheit und Aufklärung über faschistische Verbrechen. Ich kann mich an die starken Proteste französischer Antifaschisten an der Seite deutscher gegen die Berufsverbotspraxis in der Bundesrepublik erinnern - exemplarisch im Fall der Lehrerin Silvia Gingold.

In der Tat waren die internationalen Beziehungen im Rahmen der FIR eine wichtige Hilfe für die Verteidigung demokratischer Rechte und Freiheiten in vielen Ländern, quasi eine internationale antifaschistische Solidarität. Dies zeigte sich 1962 beim gescheiterten Verbotsprozess gegen die VVN, bei der Solidarität zur Rettung griechischer Demokraten nach dem Putsch der Militärjunta, aber auch beim Kampf gegen die Berufsverbote in der BRD, als aus allen europäischen Staaten Proteste von FIR-Verbänden gegen jegliche antidemokratische Politik erhoben wurden.

Es war für die NS-Verfolgten völlig unverständlich, dass die Tochter eines deutschen Widerstandskämpfers, Peter Gingold, der an der Befreiung Frankreichs teilgenommen hatte und dort hoch geehrt wurde, in der BRD nicht Lehrerin werden sollte, weil sie sich antifaschistisch engagierte. Ich denke, die internationale Solidarität hat damals viel dazu beigetragen, dass Silvia Gingold nach einigen Jahren tatsächlich - wenn auch nur als Angestellte - in den hessischen Schuldienst übernommen wurde.

Es vergeht kaum eine Woche, in der es nicht eine Erklärung der FIR gibt - zu historischen Ereignissen wie dieser Tage 80 Jahre Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion oder 85 Jahre Volksfront in Frankreich, aber auch zur aktuellen internationalen Lage, sei es zur Black-Lives-Matter-Bewegung oder zur Orbán-Regierung in Ungarn. Wo sehen Sie heute die größte Gefahr für die Demokratie in Europa und für das vereinte Europa?

Zunächst: Es freut mich, dass unsere Arbeit mit dem Newsletter so wahrgenommen wird, dass wir zu vielen politischen Themen etwas zu sagen haben. Tatsächlich ist es so, dass auch 70 Jahre nach Gründung der FIR das politische Vermächtnis der Überlebenden - »Schaffung einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit« - noch immer als unerfüllte Aufgabe steht. Die FIR und ihre Verbände haben sich in den letzten Jahren nicht nur für eine neue, junge Generation von Antifaschisten geöffnet, sondern sind auch Teil von demokratischen Bewegungen. So gehört unser Mitglied MEASZ zu jenem gesellschaftlichen Bündnis in Ungarn, das die Orbán-Regierung abzulösen versucht. Die italienische ANPI organisiert ein Netzwerk von Verbänden, Gewerkschaften und Parteien zur Verteidigung der antifaschistischen Verfassung, und die deutsche VVN-BdA ist Mitträger der Initiative Aufstehen gegen Rassismus, die sich deutlich gegen die AfD und ihren gesellschaftlichen Einfluss engagiert.

Diese drei Initiativen zeigen bereits wichtige Inhalte. Ein weiteres zentrales Handlungsfeld ist es, allen Versuchen geschichtsrevisionistischer Umdeutung europäischer Geschichte entgegenzutreten, wie sie sich in der skandalösen Resolution des Europaparlaments vom 19. September 2019 zeigten: mit der Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus gemäß der Totalitarismustheorie.

Anlässlich des diesjährigem Internationalen Holocaust-Tages hat die FIR die sture Haltung der deutschen Bundesregierung zu den Renten für belgische und baltische SS-Freiwillige kritisiert und die weiterhin bestehende Diskrepanz, was die Entschädigung der Opfer des NS-Regimes betrifft. Erhielten Sie eine Antwort darauf?

Die Bundesregierung hat uns keiner Antwort für würdig befunden, aber unsere belgischen Freunde und Mitstreiter haben die Unterstützung der FIR als sehr wichtig angesehen, da damit die »nationale Brille« überwunden werde. Es geht aber nicht allein um Belgien und die baltischen Staaten, es geht generell um den Umgang mit Nazi-Kollaborateuren in allen europäischen Ländern. Und dazu kann es nur eine internationale Antwort geben.

Wie steht es um die öffentliche Wahrnehmung der FIR, nicht nur in Deutschland? Der politische Umbruch Anfang der 90er Jahre ist an Ihrer Organisation sicher nicht spurlos vorbeigegangen, hat sie doch gerade in den sozialistischen Staaten großen Rückhalt erfahren.

Wir müssen ehrlich eingestehen, dass unser Einfluss heute nicht zu vergleichen ist mit der Rolle der FIR in den 80er Jahren. Aber es freut uns doch, dass die FIR anlässlich des 70. Gründungsjubiläums Grußschreiben vom spanischen Ministerpräsidenten und weiteren Staats- und Regierungschefs erhalten hat.

Wichtiger noch: 60 Mitgliedverbände in über 25 Ländern sehen die FIR als ihre Dachorganisation an, die sich den heutigen politischen Herausforderungen stellt. Oft nicht einfach, wenn man bedenkt, dass in den Reihen der FIR militärische Veteranenverbände und zivilgesellschaftliche antifaschistische Organisationen vertreten sind. Auch haben wir Mitglieder in Ländern, die staatspolitisch eher konfliktbeladen sind. Eine der spannendsten Initiativen in den letzten fünf Jahren war die Balkan-Friedenskonferenz, auf der die Verbände aus allen Ländern dieser Region mit Delegationen vertreten waren - so etwas schafft sonst nur die Uno.

Respekt! In einer Erklärung Anfang des Jahres freuten Sie sich, dass von neofaschistischen Organisationen geplante Treffen coronabedingt nicht stattfinden konnten. Die Pandemie verhinderte aber leider auch antifaschistische Initiativen.

In der Tat haben die pandemiebedingten Reiseinschränkungen viele geplante Aktivitäten verhindert. Das große Jugendtreffen in der Gedenkstätte Auschwitz, »Train des Milles«, Zug der Tausenden, Befreiungsfeiern und natürlich auch unsere »Geburtstagsfeier« mit internationalen Gästen. Wir hoffen, dass wir die für Herbst in Berlin geplante Verleihung des Michel-Vanderborght-Award an Gruppen und Persönlichkeiten feiern können, die wichtige Beiträge im Sinne des Vermächtnisses der Überlebenden geleistet haben. Michel Vanderborght kämpfte als Partisan gegen die deutsche Okkupation Belgiens und hat 1960 in seiner Heimat den ersten Marsch gegen die Stationierung von US-Atomraketen in Europa organisiert. Außerdem war er Präsident der FIR. Eine beeindruckende Persönlichkeit.

Zum 70. Jahrestag haben Sie quasi als »Geburtstagsgeschenk« eine Broschüre über antifaschistische Gedenkorte in der Bundesrepublik zusammengestellt. Wie viele Orte konnten Sie ermitteln?

In dieser über 100-seitigen Bild-Text-Dokumentation über FIR-Gedenkorte zeigen wir knapp 50 Gedenksteine und Gedenkstätten zu Außenkommandos von Konzentrationslagern, Erinnerungsorte für Frauen und Männer des Widerstands, Opfer der Zwangsarbeit und der »Todesmärsche« in den letzten Kriegstagen sowie Mahnmale für sowjetische Soldaten, auf denen das Symbol der FIR zu sehen ist. Alle diese Gedenkorte befinden sich übrigens im Osten Deutschlands, auf dem Gebiet der damaligen DDR. Die Broschüre kann übrigens über VVN-BdA oder über office@fir.at bezogen werden.

Die Recherche war ziemlich mühselig. Aber wir haben viel Unterstützung erfahren, von antifaschistischen Gruppen und Initiativen, Heimatgeschichtsforschern und Gedenkstätten, städtischen Gremien und sogar Tourismuseinrichtungen. Selbst die Friedhofsverwaltung Güstrow und ein Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr aus Sachsen, um nur zwei konkrete Beispiele zu nennen, haben geholfen. Dies bezeugt, dass die Gedenkorte nicht vergessen und oft Teil einer lebendigen antifaschistischen Erinnerungskultur sind.

Vor zehn Jahren haben wir zusammen mit dem belgischen Institute des Veterans eine Europakarte erarbeitet, auf der faschistische Lager und Haftstätten verzeichnet sind. Wir ermittelten 2500 deutsche Terrorstätten, über ganz Europa verteilt.

In der Broschüre erinnern Sie aber auch an »verschwundene Gedenkorte«.

Es wird keinen Leser dieser Zeitung überraschen: Gerade im Zuge der Abwicklung des Antifaschismus - einst wie heute Lebens-, ja Überlebenselixier der Demokratie - Anfang der 90er Jahre in den neuen Bundesländern standen Gedenkstätten unter großem politischen Druck. An manchen Orten wurde das FIR-Symbol auf Gedenksteinen entfernt, es wurden Gedenkstätten beseitigt oder Gedenkorte als Mahnung pauschal »gegen Krieg und Gewaltherrschaft« ideologisch umgewidmet. Manche Gedenkorte verschwanden gänzlich.

An vielen Orten gelang es aber auch, Gedenksteine mit dem FIR-Symbol zu verteidigen. Das ist - 70 Jahre nach der Gründung der FIR - ein ermutigendes Zeichen für alle, die sich dem Vermächtnis der Überlebenden des Naziterrors und des antifaschistischen Widerstands verbunden fühlen.

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