Merseburger Küchenrunde

Eine Ausstellung würdigt anlässlich von Willi Sittes 100. Geburtstag den Realismus in der Kunst

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 7 Min.

Das genaue Datum ist vergessen. Irgendwann Anfang der 60er Jahre saß eine illustre Künstlerrunde um einen Tisch in der »Kollwitzstr. 59, 4. Stock«, wie es präzise im Titel des Bildes von Harald Metzkes heißt. Es zeigt den Maler im Kreise seiner Lieben: Frau und drei Kinder, die Schwägerin, dazu sieben Künstlerfreunde. Werner Stötzer gießt Tee ein. Wilhelm Lachnit jongliert Orangen, die er für die Kinder aus Westberlin mitgebracht hat. Gerhard Altenbourg balanciert elegant eine volle Teetasse; die des jungen Ronald Paris ist noch leer. Auf dem Tisch stehen Brot und Fisch; ein fast biblisches Mahl. Es ist eine unspektakuläre Szene - und doch eine, die tiefen Eindruck bei den Beteiligten hinterlassen haben muss. Als Metzkes sie endlich auf eine fünf Quadratmeter große Leinwand bannte, waren 37 Jahre seit der Küchenrunde vergangen.

Dass diese nun als zentrales Werk in einer Ausstellung in Merseburg zu sehen ist, liegt an einem Mann, der am Küchentisch rechts sitzt, den prüfenden Blick zum Betrachter gewandt und einen Zigarillo in der Rechten. Es ist Willi Sitte, der in diesem Jahr 100 geworden wäre; er wurde am 28. Februar 1921 in der damaligen Tschechoslowakei als Sohn eines Bauern und Kommunisten geboren. Die Galerie in Merseburg ist der Ort, von dem am ehesten erwartet wurde, dieses Ereignis gebührend zu würdigen, schließlich trägt sie den Namen des Künstlers. Die Willi-Sitte-Galerie wurde 2006 von der drei Jahre zuvor ins Leben gerufenen Willi-Sitte-Stiftung für realistische Kunst eröffnet. Dieser hatte der in Halle lebende, aber damals in der Stadt wie im gesamtdeutschen Kunstbetrieb nicht wohlgelittene Künstler viele Werke übertragen: 245 Gemälde, 180 Drucke und über 1000 Handzeichnungen. Vieles davon war in den über 80 Ausstellungen zu sehen, die seither in der Galerie ausgerichtet wurden und neben realistischen Künstlern aus Vergangenheit und Gegenwart auch immer wieder Sittes Schaffen präsentierten.

Der 100. Geburtstag hätte nun Anlass sein können, dieses noch einmal in seiner vollen Breite zu zeigen: altmeisterliche Zeichnungen aus Sittes Zeit bei den italienischen Partisanen; Werke aus der Nachkriegszeit, die von Picasso inspiriert sind; die lebensprallen Figuren seiner späteren Gemälde, der Akte, der Porträts arbeitender Menschen. Aber Sittes Werk liegt nicht mehr in Merseburg. Stiftung wie Galerie gingen durch wirtschaftlich schwierige Zeiten; erstere musste nach 15 Jahren Existenz wegen Kapitalmangels liquidiert werden. Die Gemälde und Grafiken hat Sittes Familie inzwischen nach Halle zurückholen lassen. Die Galerie setzt ihren Betrieb fort, wenn auch in bescheidenerem Umfang. Dennoch sei es auch für sie »nicht mehr leicht, an Bilder von Willi Sitte heranzukommen«, sagt Galeriechef Michael Finger.

In Merseburg entschloss man sich, aus der Not eine Tugend zu machen, und folgte einem Gedanken, der in Metzkes’ Bild »Kollwitzstr. 59, 4. Stock« sinnfällig verkörpert ist: Man zeigt Sitte im Kreise seiner Lieben, von Freunden und Schülern, Wegbegleitern und Künstlern, die wie Sitte in der Tradition des Realismus stehen - wobei der Begriff nicht zu eng definiert wird. So wie in der Küchenrunde vor sechs Jahrzehnten auch ein Gerhard Altenbourg seinen Platz hatte, so zeigt auch die Merseburger Schau ein weites Spektrum künstlerischer Handschriften. Er sei einem »weit umspannenden Realismusbegriff« gefolgt, sagt Kurator Peter Arlt. Im Katalogtext zitiert er Bertolt Brecht, der schrieb, Realismus sei »keine Formsache«, sondern strebe an, den »gesellschaftlichen Kausalkomplex« aufzudecken. Es geht um Weltbezüge, aber auch um Symbolbedeutungen. Harald Metzkes formuliert: »Die Sinne gebrauchend, laden wir die Dinge mit Ideen auf.«

Die Besucher erwartet so in der Ausstellung, zu der 85 Künstlerinnen und Künstler beigetragen haben, eine erfreulich große Vielfalt. Zu sehen sind einerseits fotorealistische Werke wie Jorge Villalbas idyllische »Burg Gleichen« oder das erschütternde Triptychon »Minenopfer« von Knut Müller, dazu einzelne Fotografien wie Jochen Ehmkes »Baggermadonna«, eine Botticelli-Figur im Blaumann.

Am anderen Ende des Spektrums findet sich Ingo Arnolds Federzeichnung »Stumm winkend«, die an eine Landschaftsszene mit Baum denken lässt, aber aus Textzeilen eines gleichnamigen Gedichts sowie einer Art Notenlinien gebildet wird. Eine 1958 entstandene ungegenständliche Radierung von Heinz Trökes, die nicht als realistisch im engeren Sinne gelten würde, hat Arlt ausgewählt, weil die Vielfalt ihrer Formen und Strukturen die Vielfalt der Wirklichkeit spiegelt und als künstlerische Darstellung der »Weltformel« gelesen werden kann, die der Physiker Werner Heisenberg in ebenjenem Jahr gefunden zu haben meinte. Im Katalog, wo Arlt ihr den Platz auf der letzten Bildseite zugewiesen hat, bildet sie quasi die Quintessenz des zuvor Gesehenen.

Die übergroße Mehrzahl der 151 Werke, zu denen neben Gemälden und Grafiken für Merseburger Verhältnisse auch ungewöhnlich viele Plastiken gehören, haben aber klarere visuelle Bezüge zu Welt und Wirklichkeit. Sie werden in der Ausstellung nach inhaltlichen Kategorien geordnet. Es gibt Porträts, zum Beispiel die so müde wie selbstbewusst blickende »Arbeiterin aus dem Berliner Glühlampenwerk«, das 1974 entstandene erste Auftragswerk von Núria Quevedo, oder Norbert Wagenbretts 40 Jahre später gemalte »Diane«, ein Bild voller doppelbödiger Ironie. Es gibt Bilder von Tieren und Landschaften, von Krieg und Frieden, Lust und Liebe. Viele Werke lassen sich als dezidierte Kommentare zu Zeitgeschehen und Zustand der Welt lesen: Ulrich Barnickels Skulptur »Apokalypse« etwa oder Horst Peter Meyers Kaltnadelradierung »Einfall der Fledermaus«, ein Werk, das augenscheinlich von der Corona-Pandemie angeregt ist.

Bei all dieser Vielfalt gibt es gemeinsame Nenner. Der wichtigste: Die Künstler, die sich an der Merseburger »Hommage auf den Realismus« beteiligen, sind zum weit überwiegenden Teil Ostdeutsche; Galeriechef Finger spricht sogar von einem »Who is who der Künstler in Ostdeutschland«, was nicht ganz stimmt, weil wichtige Namen fehlen, Werner Tübke etwa. Dennoch stimmt die geografische Verortung, die kein Zufall ist. Im Westen sei Realismus als »Unkunst« verdammt worden, im Osten sei »alle Kunst Realismus« gewesen, zitiert Arlt ein verbreitetes Urteil. Es ist klischeehaft zugespitzt, hat aber Folgen. Dem Realismus verbundene Künstler würden im Kunstmarkt oft nicht sonderlich hoch gehandelt; ihnen fehlten Gelegenheiten für Ausstellungen; von Galerien würden sie »gedrückt«.

Aus diesen »festen Fesseln« wolle man sie mit der Ausstellung lösen, sagt Arlt und zitiert damit einen der »Merseburger Zaubersprüche«, die im Jahr 750 entstanden sind, in der Bibliothek des Merseburger Domkapitels gefunden wurden und zu den wichtigsten Zeugnissen der mittelalterlichen deutschen Literatur gezählt werden. Arlt nahm sie in den Titel der Ausstellung auf, zusammen mit den »Merseburger Sprüngen«. So betitelte die ebenfalls zur Runde in der »Kollwitzstr. 59« zählende Elrid Metzkes, die Frau des Malers, einen farbenfrohen Gobelin von 2009. Die Klammer von altdeutscher Literatur zur realistischen Kunst mag auf den ersten Blick bemüht wirken; die Sprüche enthalten aber auch eine Passage, die gut als trotziges Motto der Schau gelten kann: »Entspring den Banden, entweich den Feinden«, wie es in der Übersetzung aus dem Althochdeutschen heißt.

Ein Künstler, der unabhängig von seinem Faible für realistische Kunst viele Feinde hatte, ist Quasi-Gastgeber Willi Sitte. Er sei nach dem Ende der DDR stets mindestens als »umstrittene Person« vorgestellt worden; ein »furchtbares Epitheton«, findet Arlt. Manchem galt der Chef des Verbands Bildender Künstler, der im Zentralkomitee der SED saß, gar als »mächtiger als die Stasi«. Er sei zum Blitzableiter für Wut auf das politische System gemacht worden, sagt Arlt. Viele Künstlerkollegen kannten ihn aber anders. Sitte sei »voll Freundschaftlichkeit« gewesen, zitiert der Katalog den Malerkollegen Metzkes, der mit ihm am Küchentisch saß. Die Schau, die mit dessen Gemälde eröffnet wird, hat ihr Herzstück in acht Faserstiftzeichnungen, die Willi Sitte 2012 schuf. Da war er schon krank und habe sich dennoch »aufgerafft, um kreativ zu werden«, sagt Arlt. Die letzte Zeichnung entstand am 7. Juni 2012. Ein Jahr und einen Tag später starb Sitte mit 92 Jahren.

»Merseburger Sprüche & Sprünge. Eine Hommage auf den Realismus«, bis 9. Januar 2022 in der Willi-Sitte-Galerie Merseburg, Domstraße 15. Mittwoch/Donnerstag 12 bis 16 Uhr, Freitag bis Sonntag 12 bis 17 Uhr.

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