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Mehr als das kleinere Übel

Viele Vorwürfe gegen Annalena Baerbock sind überzogen. Doch der Umgang der Grünen mit den Attacken ist alles andere als souverän, findet Robert D. Meyer.

  • Robert D. Meyer
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist eine Schlüsselszene vieler US-Politdramen: Berater*innen fragen den in solchen Filmen oft männlichen, aufstrebenden Kandidaten, ob in seinem Keller irgendeine private oder gesellschaftliche Leiche liegt, die es zu kennen gilt, bevor politische Gegner*innen darauf stoßen und diese Schwäche gnadenlos ausnutzen. Der Kandidat verneint, doch in Wahrheit hat er Minimum eine laufende Affäre, im Studium mit Drogen experimentiert oder sonst etwas getan, was die Mehrheitsgesellschaft als anrüchig empfindet.

Was Hollywood aus Unterhaltungszwecken übertrieben inszeniert, erklärt Laien die wichtigste Grundregel politischer Kommunikation: Wer für ein hohes Amt kandidiert, sollte nicht nur über ein überzeugendes Programm verfügen, Reden halten und selbstsicher auftreten können, sondern auch die eigenen Schwächen genaustens kennen.

Dabei kommt es nicht darauf an, ob es sich in den Augen der eigenen Anhänger*innen um eine tatsächliche Schwäche, respektive Fehler oder Makel handelt. Man muss sich fragen, was die politische Konkurrenz schlimmstenfalls anstellt, wenn sie in den Besitz dieser Information gelangt.

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Mit Blick auf die letzten Wochen entsteht der Eindruck, dass die Grünen diese Regel nicht oder unter den völlig falschen Schwerpunkten beachteten. Ihre Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock sieht sich lautstarken persönlichen Vorwürfen ausgesetzt. Objektiv betrachtet verraten einige Attacken mehr über Baerbocks Kritiker*innen als über die Grünenpolitikerin.

So ist die Debatte darüber, ob es sich bei Völkerrecht um eine treffende Beschreibung für ein Masterstudium in Public International Law handelt, von unsachlichen Motiven getrieben, handelt es sich doch lediglich um eine Übersetzung, die einen sperrigen Begriff begreifbar macht. Angesichts inzwischen zahlreicher in Einzelschritten erfolgter Anpassungen ihres Lebenslaufs fragt man sich aber doch, warum die Grünen Baerbocks Vita nicht schon nach Aufkommen der ersten Lappalien gründlich auf weitere Schwachstellen überprüften.

Für das Wahlkampfteam hätten solche zum Skandal aufgeblasenen Nichtigkeiten eine Warnung sein müssen: Wir werden mit Dreck beworfen, irgendwas bleibt kleben und sobald jemand Vorwürfe mit realer Substanz findet, haben wir ein Problem.

Das Problem war dann 240 Seiten dick und nennt sich »Jetzt. Wie wir unser Land erneuern«. Inzwischen haben Plagiatsjäger so viele ganz oder nahezu wortwörtlich übernommene und nicht gekennzeichnete Zitate aufgespürt, dass die anfangs bemühte Rechtfertigung nicht mehr trägt, hier seien nur ein paar Gedanken und frei zugängliche Informationen adaptiert worden.

Es dauerte fast zwei Wochen, bis die Grünen ihre Verteidigung änderten. Erst am vergangenen Donnerstag räumte Baerbock in einem Interview ein, es wäre rückblickend »sicherlich besser gewesen, wenn ich doch mit einem Quellenverzeichnis gearbeitet hätte«. Am Freitag kündigte der Ullstein-Verlag an, das Buch um Quellenangaben zu erweitern. Die Frage ist: Warum erst jetzt?

Der Skandal wäre längst abgeebbt, hätten die Grünen genau diesen Schritt direkt vollzogen, als Gutachter Stefan Weber mit den ersten auffälligen Passagen an die Öffentlichkeit ging. Baerbock musste doch wissen: Da ist noch mehr. Stattdessen ließen es ihre Strateg*innen zu, dass das Thema über zwei Wochen köchelte, statt einen schnellen Schlussstrich zu ziehen: Sorry, ich hab einen Fehler gemacht und korrigiere diesen.

Das wäre glaubwürdig gewesen. So wirkt Baerbock nun wie eine Getriebene, die erst Konsequenzen zieht, wenn es nicht mehr anders geht. Das ist altbekanntes Politgehabe und das Gegenteil der Verkörperung von Aufbruch und eines offenen, respektvollen Stils, für den die Grünen doch stehen wollen.

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Ein schwerer Schlag für eine Kampagne, die von der Erzählung lebt, dass sich eine junge, politisch unbelastete Frau um das wichtigste Amt in der Bundesrepublik bewirbt und mit ihrer Person einen Neustart nach 16 Merkel-Jahren verkörpert. Dabei spielt es keine Rolle, wie lang die Liste politischer Verfehlungen von Baerbocks Konkurrenten Olaf Scholz und Armin Laschet ist. Sie muss als nächste Kanzlerin für mehr stehen als nur das politisch kleinere Übel.

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