Grenzen und Freiheit

60 Jahre Mauerbau: Ein Programm und viele offene Fragen

  • Wilfried Neiße
  • Lesedauer: 4 Min.

Maria Nooke, Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur in der DDR, spricht mit Blick auf die Abriegelung der Grenze 1961 von einer »Zäsur« der deutschen und brandenburgischen Zeitgeschichte. Bei dieser sei zu untersuchen, welches Leid sie ausgelöst habe und wie die Trennung bis heute nachwirke. Betrachtet werden solle, welche Freiräume dennoch gefunden und in welch hohem Maße die Grenze als Normalität anerkannt worden sei. Nooke kündigte an, dass bei einer Feierstunde die Namen der 140 an der Westberliner Grenze Getöteten verlesen werden sollen.

30 Jahre nach dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des bundesdeutschen Grundgesetzes bestehe unverändert eine »Kluft« in der Wahrnehmung der damaligen Zeit, sagte Bettina Frevert, in der Aufarbeitungsbehörde verantwortlich für die Jugendarbeit. Noch immer trete das Problem auf, dass Lehrer sich der NS-Geschichte zuwenden und die DDR-Jahre »hinten runterfallen« ließen. Doch würde sich an dieser Stelle so nach und nach etwas ändern.

Nooke sprach sich dafür aus, beim Blick zurück »multiperspektivisch« heranzugehen. Es gebe Menschen, die nach 1990 in ein tiefes Loch gefallen seien und die im Rückblick fänden, es sei in der DDR »gar nicht so schlecht« gewesen. Dafür müsse man ein gewisses Verständnis aufbringen. Doch frage sie zurück, was diese Menschen 1989 gedacht und wofür sie damals eingetreten seien. Die Tatsache, dass am 3. Oktober 1990 homosexuelle Männer wieder das wurden, was sie zu DDR-Zeiten nicht waren: Straftäter, quittierte die Aufarbeitungsbeauftragte mit dem Hinweis, ihr sei kein ostdeutscher homosexueller Mann bekannt, der danach als Straftäter behandelt worden sei. Homosexuelle Männer seien in der DDR immer mal in Schwierigkeiten gewesen und hätten sich nicht selten unter das Dach der Kirche geflüchtet. Es handele sich nicht um ein Thema, das mit Freiheit verbunden sei.

Einer neu vorgelegten Studie von Werner Wolff zufolge hatten 1989 rund 600.000 Behinderte in Betrieben und Einrichtungen der DDR ihr Recht auf Arbeit wahrgenommen. Nachdem dieses Recht gestrichen worden war, blieb zwei Jahre später - wenn überhaupt - noch ein Viertel in Anstellung. »Der Verlust des Arbeitsplatzes traf Behinderte wie nicht Behinderte«, sagte Nooke auf die Frage, ob diese Menschen sich besonders befreit haben vorkommen müssen. Das sei zweifellos »dramatisch und problematisch« gewesen und hänge nun einmal mit den »Transformationen« dieser Jahre zusammen. Man dürfe aber nicht die zum Teil unhaltbaren Zustände in den psychiatrischen Einrichtungen der DDR vergessen, an dieser Stelle hätten sich seither sehr viele substanzielle Verbesserungen ergeben.

Die heutige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) war als alleinstehende junge DDR-Akademiewissenschaftlerin zu einer Tagung in den Westen gereist und auch zur Hochzeit ihrer Cousine nach Hamburg. Ob sich solche Erfahrungen und auch die des millionenfachen Reisens über die deutsch-deutsche Grenze mit Vorstellungen von der »endgültigen Trennung« zwischen beiden deutschen Staaten nach 1961 vereinbaren lassen, wurde sie gefragt. Dass diese Westreisen für die spätere Kanzlerin möglich waren, »das ist ja sehr schön für Frau Merkel«, sagte Nooke und differenzierte dann die Lage: Viele durften das nicht, einige durften manchmal fahren, »und manche durften immer fahren«. Sie erinnerte auch daran, dass westdeutsche Kinder, die vom Mauerbau in der DDR überrascht worden seien, erst im Erwachsenenalter wieder zu ihren Eltern in den Westen zurückkehren durften.

Die Landesbeauftragte bestätigte, dass rund 33.000 Häftlinge von der Bundesrepublik freigekauft wurden und ohne Gefahr für Leib und Leben die DDR Richtung BRD verlassen durften. Dass darüber hinaus in den 28 Mauerjahren circa 486.000 DDR-Bürgerinnen und -Bürger per Ausreiseantrag die Grenze Richtung Westen ebenfalls ungefährdet überqueren konnten, bestätigte sie nicht.

Maria Nooke stellte in den Vordergrund, dass man eben nicht problemlos von der DDR in den Westen reisen konnte. Daher ließ sie auch als Argument nicht gelten, dass in den 60er und 70er Jahren alle Staaten Europas den illegalen Grenzübertritt verboten hatten und als Straftatbestand behandelten. Bleibt die nach wie vor von der Aufarbeitung nicht beantwortete Frage, ob diese damalige deutsch-deutsche Grenze nicht doch in erster Linie die Trennlinie zweier Weltsysteme war, von denen das eine sein Zentrum in Washington hatte und das andere in Moskau, und die mit Atomwaffen aufeinander angelegt hatten. Kann man an eine solche Grenze die Maßstäbe anlegen wie an die zwischen Frankreich und der Schweiz?

Zum diesjährigen Veranstaltungsprogramm »Grenzen und Freiheit« gehören die Filmreihe »Zeitschnitt - die Mauer im Spiegel von Kurzfilmen aus vier Jahrzehnten«, Generationenspaziergänge zur Mauergeschichte und die Präsentation verschiedener neuer Bücher.

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