Er sieht überall die Apokalypse

Das Leben als Traum: Retrospektive zu Andrej Tarkowskij im Kino Arsenal in Berlin

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Tarkowskij-Filme sind heilsame Zumutungen. Ihre Handlung ist Traum, der einer eigenen Logik folgt. Das macht sie unerreichbar für kleinliche Rechthaber. Der Bildhorizont seiner Filme ist der einer Geschichte, die vor langer Zeit begann und noch längst nicht an ihrem Ende steht. Obwohl zu aller Zeit auch das Ende droht, für den Einzelnen ohnehin, aber auch für die Menschheit im Ganzen. Denn dieser Regisseur sieht überall die Apokalypse, das Weltgericht, dem sich niemand entziehen kann.

Wollte man gedankenlos zeitgeistig daherreden, wollte man ihn denunzieren, dann müsste man Andrej Tarkowskij einen Verschwörungstheoretiker mit den Mitteln des Films nennen. Derart ins Ideologische gewendet, ist das natürlich Unsinn, aber auf der Suche nach einer geheimnisvollen Macht, die die Menschen bedroht (sei sie real oder eingebildet), ist er in allen seinen Filmen. Das macht sie zu modernen Märchen, zu Seelendramen, die in einer - letztlich - surrealen Landschaft spielen.

Nun zeigt das Kino Arsenal in Berlin eine Retrospektive der Filme Tarkowskijs von 1962 bis 1986. Und wir bemerken nicht ohne Erschrecken, dass sie viel mit der Corona-Realität des letzten Jahres zu tun haben. Lauter Albtraumlandschaften, in denen Menschen verloren gehen können. Die Bilder fließen aufreizend langsam an uns vorbei, durch uns hindurch, lassen sich auch durch immer neue Katastrophenmeldungen nicht beschleunigen. Ein heilsamer Lockdown auch dies: das Runterfahren von Nachrichtenreizen, vom Tempo der äußeren Handlung. Da will uns niemand erst schockieren und dann überrumpeln, nein, wir gehen hier auf eine Reise, die in Joseph Conrads »Herz der Finsternis« führt - und den Zuschauer dabei gleichzeitig sehend macht. Erkenntnis heißt für Tarkowskij, den Mystiker des Kinos, immer aufs Neue die Aufhellung eines geschichtlichen Dunkels.

Tarkowskij drehte seine Filme so, wie Andrej Rubljow in seinem gleichnamigen Film-Epos Ikonen malt: als Passionsweg des Einzelnen auf der Suche nach Wahrheit. Mit Kot beschmutzt, sind sie dennoch von einer überwältigenden Leuchtkraft - das, was man über jede unsterbliche Idee sagen kann. Drei Jahre lang, von 1966 bis 1969, drehte Tarkowskij an »Andrej Rubljow«. Ein Künstler in grausamer Zeit (hier an der Wende zum 15. Jahrhundert), mit seinen Werken wider sie zeugend! Tarkowskij nahm sich dieses Themas - aus Gründen, die in seiner eigenen Gegenwart lagen - mit der gleichen Unbedingtheit an, mit der Konrad Wolf an seinem Film über den Maler Goya arbeitete. Wie gelangt man als machtloser Einzelner (als Künstler), aus der Position der Schwäche heraus, zu einer Stärke des Ausdrucks, die jede Machtandrohung überwindet? Das Thema aller großen Kunst bis heute. (»Andrej Rubljow«, am 16.7. und 27.7., jeweils um 20 Uhr)

Den Auftakt der Tarkowskij-Reihe aber bildet sein Erstling von 1962, »Iwans Kindheit« (15.7. und 22.7., 20 Uhr), mit dem er sofort international für Furore sorgte. Das Schicksal eines Kindes während des Zweiten Weltkrieges in der Roten Armee. Iwan, eine zwölfjährige Kriegswaise, ist aus einem deutschen Todeslager geflohen und meldet sich freiwillig als Aufklärer der feindlichen Linien. Er hat nur einen Gedanken: Rache! Seinen schließlich unausweichlichen Tod nimmt er dabei in Kauf. Tarkowskij inszeniert dies nicht im zeittypischen Stil eines Heldenepos, sondern er zeigt die Zerstörung von Kindheit, den seelischen Tod, der dem physischen vorausgeht. Denn der Krieg kennt nur Opfer.

Wir sehen keine der Kriegshandlungen, wir blicken Iwan und den Menschen um ihn herum in die Gesichter. Überall Angst, Schmerz und stumpfe Hoffnungslosigkeit. Die Innenwelt des Krieges ist dunkel und voller Albträume. »Iwans Kindheit« bleibt einer der wichtigsten Antikriegsfilme, die je gedreht wurden.

Zwei weitere Filme, die Filmgeschichte schrieben, sind ebenfalls zu sehen: »Stalker« (20.7. und 23.7., 20 Uhr) und »Solaris« (17.7. und 5.8., 20 Uhr). Beide haben sie das Unheimliche zum Thema, das im Schatten technischer Machbarkeitshybris wächst. An »Stalker« (nach Arkadi und Boris Strugatzkis Roman »Picknick am Wegesrand«) arbeitete Tarkowskij von 1974 bis 1979. Hier kreist alles um die »Zone«, ein streng bewachtes, ehemals industrielles, nun verwüstetes Areal, von dem man nicht weiß, was es so zurichtete: eine nukleare Explosion, ein Meteorit oder einfach die über eine reversible Grenze hinausgetriebene Naturzerstörung? Der »Zone « wird nachgesagt, dass es in ihr ein magischen Punkt gibt, der Menschen, die dorthin gelangen, in einen »anderen Zustand« bringt. Der Film zeigt eine kleine Gruppe von Erkenntnisbesessenen, die unter Führung »Stalkers« in die »Zone « eindringen. Aber plötzlich wendet sich die äußere in innere Expedition. Der zivilisierte Mensch steht plötzlich wie hilflos da, wartet auf seine Erlösung, die jedoch ausbleiben wird.

In »Solaris« (nach einem Roman von Stanislaw Lem) fliegt der Psychologe Kelvin zum Planeten Solaris, um eine Reihe mysteriöser Vorfälle eines anderen Forscherteams aufzuklären. Wieder wendet sich die Reise zum unbekannten Planeten in eine Expedition in unser Inneres. Es scheint, dass der unbekannte Planet die Gedanken derer materialisiert, die sich ihm nähern, seine Oberfläche ähnelt auffallend der Gehirnrinde des Menschen. Bildmächtig baut Tarkowskij an seinen filmischen Mysterien. Seine Botschaft gleicht der des griechischen Philosophen Sokrates: »Ich weiß, dass ich nichts weiß.«

Immer wieder also lässt Tarkowskij die Normen des sozialistischen Realismus hinter sich: Der Mensch ist an seiner eigenen Fortschrittsgläubigkeit blind für schicksalhafte Zusammenhänge geworden. Die Religion, die unmittelbare Verbindung des Einzelnen zum Weltganzen, beschäftigt ihn dabei ebenso wie deren philosophische Dimension. Der Mensch ist für Tarkowskij ein ewiger Sisyphos, immer den gleichen Stein bergauf rollend.

Die Absurditäten des menschlichen Strebens, die Erfahrung von Sinnlosigkeit angesichts der Unfähigkeit der Menschen aus den Katstrophen der Geschichte zu lernen, all das verwandelt er in eine Art von existenzialistischer Meditation. Immer stärker zum Unwillen der sowjetischen Kulturbürokratie, die ihm schließlich die Arbeit an neuen Filmprojekten unmöglich macht. Tatsächlich sind seine Filme Traumprotokolle, labyrinthische Bilderströme. Tarkowskij bringt damit den sowjetischen Film auf die Höhe der modernen Kunst: machtvolle Magie und kühl kalkulierte Teile einer Collage, die vom Betrachter selbst zu einer Erzählung zusammengefügt werden müssen, wie etwa in den surrealen Bilderwelten von Max Ernst oder Salvador Dalí.

Auf diese Weise, sich ganz der Eigenart seiner Bildmittel überlassend, begibt sich Tarkowskij 1975 mit »Der Spiegel« (25.7.und 8.8., 20 Uhr) auf eine biografische Reise in seine Kindheit, sichtet Erinnerungsspuren, die nicht an der Grenze des Unbewussten haltmachen.

Gesundheitlich geht es Tarkowskij, zermürbt durch die Auseinandersetzungen um seine Filme, immer schlechter, er erleidet mehrere Herzinfarkte. 1983 kann er ausreisen und lässt sich in Paris nieder. Noch zwei Filme entstehen, die sich mit dem Thema von Identität und Sinnstiftung auf der einen, Sinnverlust und Heimatlosigkeit auf der anderen Seite auseinandersetzen: 1983 »Nostalghia« (18.7. und 27.7., 20 Uhr) und 1986 »Opfer« (3.8. und 15.8., 20 Uhr).

Er plant einen Film über E.T.A. Hoffmann, den er in Berlin drehen will - kann diesen Plan jedoch wegen einer Krebserkrankung nicht mehr verwirklichen. Er stirbt 1986 mit 54 Jahren in Paris. Über Tarkowskij als Regisseur sagte Ingmar Bergman: »Für mich ist er der bedeutendste, weil er eine Sprache gefunden hat, die dem Wesen des Films entspricht: Das Leben als Traum.«

Retrospektive Andrej Tarkowskij: 15. Juli bis 15. August 2021 im Kino Arsenal in Berlin. Mehr Infos unter: www.arsenal-berlin.de

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