nd-aktuell.de / 17.07.2021 / Politik / Seite 23

Im Tor zur Unterwelt

Der Batagaika-Krater in Sibirien erlaubt einen Blick in mehr als 600 000 Jahre Klimageschichte des Permafrostbodens

Gert Lange

Mit einer spektakulären Entdeckung konnte das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung Mitte Juni aufwarten: Ein internationales Team hat den bislang ältesten bekannten Permafrostboden in Sibirien gefunden. Rund 650 000 Jahre lang war er ununterbrochen gefroren und hat, das ist das Erstaunliche, mehrere Warmzeiten überstanden. Das mag sich recht trocken lesen, doch wie Geowissenschaftler zu solchen Einsichten gelangen, ist das reine Abenteuer.

Es knistert, rieselt, poltert, Tag und Nacht. Ein lautes Knallen. Ein mächtiger Block vereister Erde ist aus dem »Tor zur Unterwelt« herausgebrochen, wie der riesige Krater in der Nähe der kleinen Rayonsstadt Batagai in Jakutien genannt wird. Thomas Opel, der von Potsdam aus den deutschen Part der Feldeinsätze koordiniert hat, steht vor einer 55 Meter hohen, fast senkrecht in den Himmel ragenden Steilwand. Daran zu arbeiten ist gefährlich. Dennoch gelingt es, an einer geschützten Stelle mit der Kettensäge einige Proben aus sogenannten Eiskeilen herauszuschneiden und zu bergen.

Das war im Sommer 2017. Was treibt die Polarforscher immer wieder nach Sibirien? »Das ist eine überwältigend schöne Landschaft«, schwärmt Opel. »Im Spätsommer, wenn die Sonne über der Tundra scheint, hast du ein bezaubernd klares Licht, wie wir es in Europa nicht mehr kennen. Ich war von Anfang an begeistert. Und ich kann etwas ganz Neues ergründen, das sehr komplex ist und das wir noch nicht ganz verstehen.«

Im April 2019 weilte Thomas Opel wieder vor Ort. Im sibirischen Spätwinter sinken die Temperaturen nachts auf minus 30 Grad Celsius. Mit Bedacht wurde diese Jahreszeit gewählt, weil die steinhart gefrorene Wand mit einiger Sicherheit erkundet werden kann.

Der ungewöhnlich tiefe, etwa einen Kilometer breite Kessel hat sich in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren gebildet. Internationales Aufsehen erregt er erst seit sechs Jahren. Sein Entstehen erschien rätselhaft. Doch die Sensibilisierung gegenüber radikalen, vom Menschen verursachten Veränderungen der Umweltbedingungen macht die unglaubliche Dynamik verständlich. Als für die Erkundung einer Zinnmine eine Trasse angelegt wurde, zerstörten Kettenfahrzeuge die schützende Vegetation. Dadurch kam mehr Sonnenlicht bis zum Boden, der Permafrost begann zu tauen, das Eis floss als Schmelzwasser ab. Die Erde sackte förmlich in sich zusammen. Solche Thermokarstsenken sind nichts Seltenes, aber die Dimensionen des Batagaika-Kraters sind weltweit einmalig.

Besonders bedenklich: Batagai ist nur 60 Kilometer vom Kältepol der Nordhemisphäre entfernt. Der beschleunigte Klimawandel kann sich also selbst in extremen Frostregionen so stark auswirken. Während seines zweiten Aufenthalts sah Opel sofort, bestätigt durch Vergleich mit alten Fotos, wie sich der Erosionskrater erweitert hatte. Die Auswertung von Satellitenbildern ergab, dass sich die Steilwand auf beiden Seiten etwa 15 Meter pro Jahr zurückzieht. »Ich war beeindruckt von der Geschwindigkeit der Erosion«, sagt er, »aber auch von der Tatsache, dass ich mit einem Mal jahrtausendealtes Sediment und Eis greifbar vor mir hatte.«

Beim Permafrost handelt es sich um Boden und Gesteine, die permanent gefroren sind, teilweise bis zu mehreren Hundert Metern tief. Etwa ein Viertel der Landmasse auf der Nordhalbkugel der Erde ist von Permafrostboden bedeckt. Darin schlummern gewaltige Mengen abgestorbener Biomasse, vor allem Pflanzenreste, aber auch Tierkörper oder Fäkalien zum Beispiel von Lemmingen. Als 2018 in eben jenem Krater die Mumie eines Wildpferdfohlens gefunden und auf ein Alter von 35 000 Jahren geschätzt wurde, ging das durch alle Medien.

Taut der Boden auf, werden Bakterien aktiv, bauen die uralten Biomasse ab und setzen die Klimagase Kohlendioxid und Methan frei. Fachleute befürchten, dass sich dadurch der Treibhauseffekt noch verstärkt. Das ist einer der Gründe, weswegen Permafrost in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt ist; Sibirien, weil die Forscher dort einen Kipppunkt des Klimawandels sehen.

Wahrlich aufschlussreich ist der Permafrost, sofern man an einen »Aufschluss«, also an eine Steilwand herankommt, weil es in Sibirien kaum Gletscher oder Eiskappen gibt, die über die frühe Klimaentwicklung Auskunft geben könnten. Unmittelbar an der Wand zu arbeiten, war im Sommer lebensgefährlich, aber Opel konnte an einem anderen, trotz Erosion stehen gebliebenen Rücken ins Sediment bohren. Aus einer 50 Meter unter dem Plateau liegenden Schicht, von der er vermutete, dass sie besonders alt ist. Die Proben wurden lichtgeschützt sorgsam für den Transport nach Europa verpackt. Das heikle Problem: Wie können die mit viel Mühe gewonnenen, »goldwerten« Funde datiert werden? Die Radiokarbonmethode ist nur bis zu einem Alter von 60 000 Jahren anwendbar. Die Datierung mittels der Isotopenverhältnisse von schwerem und leichtem Sauerstoff im Eis oder Wasser versagt in Sibirien auch, weil es im Permafrost keine kontinuierlichen Ablagerungen gibt.

Glücklicherweise beherrschen die britischen Kollegen eine Methode, die erst in den letzten Jahren perfektioniert wurde. In Gesteinen, auch Sedimenten, die wir normalerweise als ruhend betrachten, geschehen wunderliche Dinge. Das Innere der toten Materie kann voller Bewegung sein. Sobald die an der Oberfläche freiliegenden Sandkörner etwa durch angeschwemmten Boden bedeckt und von Permafrost überlagert werden, entstehen durch die natürliche radioaktive Strahlung in den Quarz- und Feldspatanteilen der Sandkörner Kristallgitterschäden. Werden die Minerale später mit Licht bestrahlt, gehen die Schäden auf Null zurück, wobei sie ihrerseits Licht emittieren. Man spricht hier von »optisch stimulierter Luminiszenz«. Je älter die Schicht, desto stärker die Schäden und entsprechend bei neuerlicher Beleuchtung die Luminiszenz. Das kann gemessen und in einen Zeitfaktor umgerechnet werden. Auf diese Weise konnten die Wissenschaftler von der University of Gloucestershire in Cheltenham erkennen, wann die fraglichen Proben zum letzten Mal dem Sonnenlicht ausgesetzt waren: vor mindestens 650 000 Jahren.

Quasi die Gegenprobe war die Analyse des Eises aus den Eiskeilen, dem zweiten Reservoir von Klimadaten im Permafrost. Sie entstehen in Frostspalten. Im Winter bei Temperaturen unter minus 40 Grad Celsius reißt der Boden infolge des Volumenverlustes beim Abkühlen bereits gefrorenen Bodens auf. Taut im Frühjahr der Schnee, dringt Schmelzwasser in die bis zu fünf Zentimeter breiten Frostspalten ein und gefriert sofort wieder. Dieser Vorgang wiederholt sich Jahr für Jahr, sodass ähnlich wie bei Baumringen wenige Millimeter breite Adern anwachsen. Weil der Spalt meistens in der Mitte aufreißt, befinden sich im Inneren des Keils die jüngsten Eisadern, zu den Rändern hin die immer älteren. So entsteht ein Umweltarchiv, das weit in die Vergangenheit reicht.

Die Eisblöcke wurden aufgetaut. Hier interessierte, wie sich in den Proben das Verhältnis von instabilem, also radioaktivem Chlor-36 zum stabilen Chlor-35 verändert hat. Je länger das Eis abgekapselt liegt, desto mehr Chlor-36 zerfällt. Nach chemischer Aufbereitung konnten die jeweiligen Anteile im Beschleuniger-Massenspektrometer des Helmholtz-Zentrums Dresden-Rossendorf ermittelt werden. Die Messung für tiefste Eislage bestätigte das Ergebnis der Sedimentologen: Etwa 650 000 Jahre.

Demnach haben die im Batagaika-Krater gefundenen tiefen Schichten des sibirischen Permafrosts nicht nur die Eem-Warmzeit vor etwa 130 000 Jahren überstanden, als es in der Arktis im Sommer vier bis fünf Grad Celsius wärmer war als heute, und in Europa Flusspferde, Nashörner und Waldelefanten lebten, sondern auch die sogenannte Superwarmzeit (engl. Super-Interglacial) vor ungefähr 420 000 Jahren. Das mag beruhigen. Andererseits zeigt der Batagaika-Krater, wie empfindlich Permafrost auf Störungen reagiert. Die neuen Erkenntnisse sind wichtig für Voraussagen über die künftige Entwicklung. Nicht zuletzt beeinflusst die Erosion das Leben der Bewohner in diesen Gebieten nicht eben günstig. Deshalb wird die Zusammenarbeit der Potsdamer Polarforscher mit der Northumbia University in England und dem Melnikow-Permafrost-Institut in Jakutsk intensiviert.