nd-aktuell.de / 17.07.2021 / Kultur / Seite 16

Ein Funke zum Leben

Warum wir Lyrik brauchen: Ein Plädoyer für die Neuentdeckung einer zu Unrecht verschmähten Gattung

Björn Hayer

Noch nie wurde in Groß- und Kleinverlagen so viel Lyrik wie heute gedruckt. Noch nie wurden so viele Dichter*innen ausgezeichnet: Elke Erb mit dem Büchner-Preis, Louise Glück mit dem Nobelpreis, nun der Wiesbadener Literaturpreis für Maren Kames und der Kölner Literaturpreis für José F. A. Oliver. Gleichzeitig vernimmt man allenthalben das Mantra von der allzu komplexen, schweren Kost. Gedichte, lieber nicht! Nicht nur im Bekanntenkreis trifft man auf eine derartige Ablehnung, selbst in literaturwissenschaftlichen Seminaren ist sie keine Seltenheit. Nur woher rührt das Unbehagen? Offensichtlich liegen bei vielen bis weit in die Schulzeit zurückgehende Traumata vor. Was die meisten mit Eichendorff, Goethe oder Brecht verbinden, lässt sich wohl am ehesten mit dem schrecklichen Begriff der Königsinterpretationen erfassen. Er suggeriert: Im Falle des Gedichts geht es erstens nur um Deutung und zweites kann es davon überhaupt nur eine richtige geben. Ganz zu schweigen davon, dass man in vielen Stunden des Deutschunterrichts den Eindruck gewinnen kann, die Gattung Lyrik bestünde nur aus verstaubten Klassikern.

Diese fatalen Irrtümer aufzulösen, bedarf großer Anstrengung - in weiterführenden Bildungseinrichtungen, in Kulturinstitutionen wie Literaturhäusern, in unermüdlichen Feuilletons, die trotz der bekannten Widerstände an diese Kleinstformate glauben, in idealistischen Verlagen. Doch warum lohnt sich überhaupt das Ringen für die Poesie? Um sich ihr wieder anzunähern, setzt es die Einsicht in ihren Sinn voraus. Und dieser ist gerade in einer Zeit der Beschleunigung und Orientierungskrisen von kaum zu überschätzender Bedeutung. Denn im Gegensatz zu allen anderen Gattungen bestechen Gedichte zunächst durch ihre Kürze und Prägnanz. Als Vademecum lassen sie sich überall lesen und vermögen uns für wenige Augenblicke aus dem stressigen Alltag zu entführen. Hin und wieder entsteht dabei jedoch mehr als ein kurzer Funkenschlag. So kann uns eine Miniatur manchmal noch Stunden, bisweilen gar noch Jahre danach verfolgen. Verse wie etwa »Du musst dein Leben ändern«, die berühmte Schlusspointe aus Rainer Maria Rilkes »Archaischer Torso Apollos«, bleiben hängen.

Nachdem der Jahrhundertwendeautor im besagten Sonett ausgiebig die Skulptur eines männlichen Körpers im Louvre beschreibt, mündet das Poem in den unerwarteten Appell. Erst im Laufe der Zeit wird er einem vielleicht klarer und klarer. Die Frage ist nicht, wohin er zielt, sondern woher er kommt. Der ethische Imperativ entspringt nämlich der direkten Anschauung der Kunst. Und kennen wir das nicht alle? Wir hören ein imposantes Musikstück oder betrachten ein Gemälde und bemerken, wie es in uns etwas auslöst? Bestenfalls sehen wir die Wirklichkeit danach in einem neuen Licht.

Keine andere Form der Literatur verfügt über jene Unmittelbarkeit in der Wirkung. Wer sich nicht darauf versteift, sofort eine schlüssige Interpretation haben zu wollen, der kann sich von dem lyrischen Entwurf erfassen und berühren lassen. Man gleitet mitunter in der Wortmalerei, wie sie Stefan George in seinem kanonischen Gedicht »Komm in den totgesagten park und schau« entfaltet. Die Wege zwischen Bäumen und Büschen beschreitend, lädt uns das lyrische Ich dazu ein, die Schönheit der Natur zu erfahren, die sich, gleich einem impressionistischen Bild, vor unserem inneren Auge herausbildet: »Dort nimm das tiefe gelb - das weiche grau / Von birken und von buchs - der wind ist lau - / Die späten rosen welkten noch nicht ganz - / Erlese küsse sie und flicht den kranz -«. Doch auch diese Pracht findet ihr Ende: »Vergiss auch diese letzten astern nicht - / Den purpur um die ranken wilder reben / Und auch was übrig blieb von grünem leben / Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.«

Während in der Realität der Herbst alles Erblühen in Welke überführt, gewährt das Gedicht Ewigkeit. Es verschriftlicht den flüchtigen Moment, und zwar in all seiner Expressivität und Fülle. Dem Poem ist die Möglichkeit eingeschrieben, die Vergänglichkeit darzustellen und sie zugleich aufzuheben. Es fußt auf der gebundenen Sprache, packt alles, was vom Wind der Zeit verloren zu gehen droht, in eine Struktur aus Rhythmus, Reim und motivischer Vernetzung.

Gewiss hält es dadurch Vergangenheit wach. Gleichzeitig verfügt es ebenso über das Potenzial, uns in zukünftige oder noch irreale Welten zu katapultieren. Dieser utopischen Wendung begegnen die Leser häufig im Werk Friedrich Hölderlins. Knüpfen seine Gedichte, geschrieben inmitten Krisenerscheinungen der frühen Moderne, verklärend an die griechische Antike an, so inszenieren sie diese für eine bessere Welt von morgen neu. Immer wieder beschwört der Grenzgänger zwischen Klassik und Romantik den Chorgeist in einer Epoche zerfallender Gesellschaften oder stellt als Priesterfigur einen Kontakt zu den vermeintlich verschollenen Göttern her: »Drum in der Gegenwart der Himmlischen würdig zu stehen«, heißt es in seinem Gedicht »Brot und Wein«, »Richten in herrlichen Ordnungen Völker sich auf / Untereinander und baun die schönen Tempel und Städte / Fest und edel, sie gehn über Gestaden empor -«. Frieden und Solidarität werden denkbar, ja, greifbar im Raum der Lyrik! Ein Roman braucht dafür mitunter mehrere hundert Seiten, ein Poem nur wenige Verse, die unseren Geist zur Vorstellung von alternativen Welten anregen.

Gedichte bieten mehr als Emotionen. Sie stimulieren zum Nachdenken und offenbaren sich als Schule des Bewusstseins und der Erkenntnis. Insbesondere weil sie oftmals verschlüsselt und rätselhaft anmuten, fordern sie uns zur Erschließung ihrer Strukturen heraus. Ähnlich Mathematikaufgaben fordern sie uns mental heraus. Dadurch öffnen Poeme unseren Geist und erweitern unsere Wahrnehmungsfähigkeit.

Die Dechiffrierung lyrischer Zeugnisse verhilft so auch zur Entwicklung eines Verständnisses für Zusammenhänge in der Realwelt. Man erhält somit ein Gespür für Ästhetik und Design, gleichsam für Logik, Symmetrie und Kohärenz. Gedichte machen demnach klug und umsichtig, sind Denksport allererster Güte.

Aber damit genug. Von geradezu unschätzbarem Wert ist ihre psychologische Bewandtnis. Wie oft sehnen wir uns nach Worten, die unser inneres Chaos widerspiegeln? Wie oft wünschen wir uns eine Resonanz im leeren und verlassenen Raum? Wenn alles wegbricht, gibt die Poesie Halt. Man denke nur an die uns aus dem Herzen sprechende Liebeslyrik. »Das Leben«, so schreibt der Meister der amourösen Wortkunst, Erich Fried, einmal, »wäre / vielleicht einfacher / wenn ich dich / gar nicht getroffen hätte // Weniger Trauer / jedes Mal / wenn wir uns trennen müssen / […] Es wäre nur nicht / mein Leben«. So einsam wir uns im Schmerz der Trennung fühlen mögen - diese Verse entpuppen sich als ein wahre Umarmung, die uns aufnimmt. Sie zeigen uns, dass wir nicht allein sind, dass ferner selbst die tiefste Finsternis ihren Sinn hat. Alles Leiden ist Teil einer reifenden Existenz. Lyrik kann uns nicht heilen. Das sicherlich nicht. Allerdings kann sie in schweren Momenten dem Dasein Leichtigkeit und Weite zurückgeben.