nd-aktuell.de / 17.07.2021 / Kultur / Seite 37

Ursula und ein Schuss in Montevideo

Mercedes Rosendes Heldin lässt die Männerpuppen tanzen

Ganz so schlau, wie die feinen Herren Verbrecher sich fühlen, scheinen sie nicht zu sein - denn sie haben den Überfall auf einen Geldtransporter recht gründlich vermasselt. Ein Glücksfall für die resolute Ursula, die die ganze Chose kurzerhand übernommen hat und sich zusammen mit ihrem nervösen, zur Ohnmacht neigenden Kumpan Germán die Beute unter den Nagel reißt. Nur sind ihr jetzt die um ihr Geld betrogenen Verbrecher auf den Fersen. Und die Polizei. Und eine Privatdetektivin. Und Ursulas Schwester. Aber Ursula entpuppt sich als verflucht begabt, was kriminalistische Unternehmen angeht, und mit ein wenig Glauben an die Dummheit der anderen wird sie das Ding doch wohl schaukeln?

Die Flucht

Ursula zögert nicht, sie versetzt Luz einen Stoß, und beide dringen in den Tunnel ein, dessen Schlund sich hinter ihnen schließt. Zurück bleiben die hell erleuchteten Läden, die bunten Kleider, die Fernseher - die Welt der Menschen. Bleiben die Hintergrundmusik und das Stimmengewirr. Nur die Angst kommt mit. Aufgelöst in Ursulas Schweiß, durchtränkt sie ihre Kleidung, klebt an ihrem Körper, schnürt ihr die Kehle ab. Eine seltsame Angst, Schwindel mischt sich hinein, Erregung, unbekannte Lust.

Der Tunnel hat sein Maul hinter ihnen geschlossen, und die beiden versinken in umfassender Dunkelheit ohne jeden Bezugspunkt. In der undurchdringlichen Finsternis ist keinerlei Geräusch zu hören. Schwer vorzustellen, wenn man aus einer Welt voller Reize und blinkender Lichter kommt. Auf den ersten Metern hat Luz noch ein wenig geweint, Tränen sind ihr übers Gesicht gelaufen, aber damit ist es vorbei. Ursula hat den Revolver in die rosafarbene Handtasche gesteckt, die unter ihrem Arm klemmt. Sie riecht die Erde, den Humus, die feuchten Wurzeln, sie riecht den Staub und die Minerale, das Eisen, die Kieselsäure.

Draußen ist Winter, ein herrlicher Tag, die strahlende Sonne scheint wunderbar warm, wiegt alle in dem trügerischen Glauben, der Frühling sei da, wenigstens bis vier Uhr nachmittags. Die beiden sprechen kaum ein Wort, sie brauchen all ihre Kraft, um voranzukommen. Sie wissen, bis zum Ausgang sind es knapp fünfzig Meter. Falls sie es bis zum Ausgang schaffen. Falls die Erde sie nicht vorher verschlingt.

Einen Monat vor der Flucht

Schon komisch, dass Papa mir gegenüber in seinem Sessel sitzt, ein Glas von seinem Lieblingswhisky in der Hand, und obendrein in dem Anzug, in dem wir ihn beerdigt haben. Draußen gewährt die Wintersonne den Bewohnern Montevideos eine kleine Erholungspause, und die Mütter sind sofort auf die Straße raus, mit der einen Hand den Kinderwagen vor sich herschiebend, an der anderen Hand das schon größere Kind hinter sich herzerrend. Die Welt lebt auf, zeigt ihr schöneres Gesicht. Und ich sitze hier drinnen, in meine Wohnung eingeschlossen, und unterhalte mich mit einem Toten.

Wie konnte es so weit kommen? Ganz einfach, eines Tages habe ich gehört, dass sich der Schlüssel im Schloss dreht, und da war er. Die Beerdigung war nicht mal eine Woche her, ach was, keine drei Tage. Ich weiß, gleich wird er aufstehen und noch einen Eiswürfel in sein Glas fallen lassen, um den Whisky zu strecken. Ich wende den Blick ab, ich will ihn nicht sehen, lieber die Sonne, die im Fluss versinkt und dabei die schönsten Rottöne hervorzaubert. Er wird mich anschauen, sich räuspern, damit ich ihm meine Aufmerksamkeit zuwende, und schon jetzt spüre ich, dass ich nicht die Kraft habe, mir sein Gemäkel an meinem Verhalten anzuhören. Was für ein Verhalten? Völlig egal, er hat an allem etwas auszusetzen.

Ich kann machen, was ich will, ich kann mich noch so sehr anstrengen, um ihn zufriedenzustellen, Papa findet immer etwas, das er mir vorhalten, auf das er mich mit der Nase stoßen kann. Ob ich einen Preis für meine Übersetzung von Camus’ Die Pest bekommen oder mir die Beute aus einem Überfall auf einen Geldtransporter unter den Nagel gerissen habe - für ihn habe ich so oder so versagt. Bloß nicht überrumpeln lassen, darum: Angriff ist die beste Verteidigung!

»Nur dass du es weißt, Papa, heute Morgen habe ich mir die Kohle von dem Überfall auf den Geldtransporter geschnappt. Ich bin hin, hab das Kommando übernommen, und zuletzt bin ich mit einem Auto mit der gesamten Beute drin abgehauen.« Er wird sich wieder in seinem Sessel niederlassen und mich lange schweigend ansehen. Dann wird er den Blick auf die goldbraune Flüssigkeit in seinem Glas richten und leise die Eiswürfel klimpern lassen. Und dann wird er seufzend die Lider runterklappen. Ich recke das Kinn und sehe ihn herausfordernd an, wie früher, als Teenager. Schildere ihm Einzelheiten, die er schockierend finden wird, ich weiß. »Ich hatte meine 38er dabei, den Roto habe ich damit niedergeknallt, dann hab ich Germán in den Wagen gehievt und bin mit der ganzen Kohle abgehauen. Wie findest du das?«

Er wird mich nicht ansehen, wird versuchen, meinem Blick auszuweichen. Ich beschreibe weiter die grausigsten Details, bis mir irgendwann schlecht wird und ich Kopfschmerzen bekomme. So weinen Menschen wie ich, Menschen, die nicht weinen können. Dann wähle ich eine andere Taktik, senke die Stimme, versuche, seine Gefühle, sein Mitleid auszunutzen. »Ich möchte nicht mehr so leben, Papa, ich möchte eine andere Frau sein.« Er wird das Glas abstellen, bevor er aufsteht und an den Glasschrank mit den japanischen Figürchen tritt. Ich höre das bekannte Geräusch, das leise Schaben der Sohlen auf dem Boden, sehe das schwarz glänzende Leder.

Seit er tot ist, hat er wieder diesen jugendlich federnden Gang. Er wird vor dem Glasschrank stehen bleiben, Stück für Stück die dreihundertzweiundzwanzig japanischen Figuren aus Elfenbein, Porzellan, Steingut, Holz durchsehen, jede einzelne Prinzessin, Opernsängerin oder Gesellschaftsdame, alle Kaiser, Krieger und Mönche, alle Hunde und Kaninchen in die Hand nehmen. Und sagen, dass sie nicht gut gepflegt werden, dass sie nicht richtig sauber sind, dass er an vielen Stellen Staub entdeckt und dass ich öfter das Ledertuch und die Staubtücher, die er in der Schublade aufbewahrt, benutzen … Ich falle ihm ins Wort: »Ich weiß, wo die Putzsachen sind, und ich wende sie genau so an, wie du es mir beigebracht hast.« Er wird lächelnd den Kopf schütteln und damit zum Ausdruck bringen, dass ich unfähig bin, dass ich die Sachen nicht hinbekomme, dass ich seines Erbes nicht würdig bin. »Nein, Papa, das stimmt nicht, die Figuren sind gut gepflegt. Ich säubere sie jeden Sonntag, mit Pinseln, Wattestäbchen, lauwarmem Seifenwasser und Natron. Fang jetzt bloß nicht an, rumzumäkeln, ich hör dir sowieso nicht zu. Hier in der Wohnung ist alles wie immer. Wenn ich nach Hause komme, die Tür aufmache und einatme, habe ich jedes Mal das Gefühl, ich sauge die ganze Vergangenheit mit ein, alles, was du mir hinterlassen hast, du und unsere anderen Toten.«

In meiner Wohnung seufzt es in den dunklen Ecken, der Parkettboden knarrt, und über die Marmorplatten streicht kalter Wind. Ich gehe hin und her und höre Stimmen, alte Echos, die sich zwischen den Wänden verfangen haben. Er wird zu seinem Sessel und seinem Glas Whisky zurückkehren. Wenig später wird er sein goldenes Feuerzeug hervorholen und vielleicht seine Pfeife damit anzünden. Papa war sehr erfolgreich und erwartete das auch von mir, ich sollte seinem Ideal entsprechen, eine schlanke intelligente Frau an der Seite eines Mannes, der so war wie er, weltgewandt und kultiviert. Aber ich war nie schlank, und ich hatte auch nie einen Mann an meiner Seite, der Papas Vorstellungen entsprach.

Kleine Splitter von Montevideo dringen nachts durch die Fenster ins dunkle Wohnzimmer. Ich sehe Papa an und weiß, dass er gleich mit dem nächsten Vorwurf kommen wird. »Nein, Papa, sag jetzt nicht wieder, ich würde die Hand beißen, die mich füttert. Unpassender kann man es gar nicht ausdrücken - die Hand, die mich füttert. Als ob du mich jemals gefüttert hättest! Als Kind hast du mich bestraft, indem du mich ohne Essen eingesperrt hast. Damit ich so schlank wie Luz und wie Mama werde. Von wegen gefüttert!« Wieder könnte ich vor Wut und Hass platzen, wenn ich an die Vergangenheit denke. Nur zu, mir soll‘s recht sein, gerne mehr davon. Die Wut hilft mir, das Leben zu ertragen. In wildem Durcheinander steigen die Bilder und Erinnerungen in mir auf, ganz wie es ihre Art ist, auf irgendwelche zeitlichen Ordnungen nehmen sie keine Rücksicht, sie walzen einfach über uns hinweg. Ich gieße Öl ins Feuer, rufe mir all die Vorwürfe ins Gedächtnis, die er mir gemacht, die Strafen, die er mir auferlegt hat, den Hunger und die Dunkelheit, die ich in meinem Zimmer durchmachen musste. Der Hass soll bloß nicht aufhören, sonst kehrt am Ende noch der Schmerz zurück, den ich nicht ertragen kann, das weiß ich genau. Lieber sollen tausend rasende Wespen in meinem Kopf umherschwirren.

Ja, im Lauf des Lebens ist unsere gegenseitige Verachtung immer größer geworden, und wir beide sind uns immer ähnlicher geworden. Jetzt, wo er tot ist und ich ihn in dieses Pantheon verbannt habe, hinter den Schutzwall aus Blumen, den meine Schwester immer wieder neu für ihn errichtet, sind wir beinahe ein und dieselbe Person. Gleich wird er für einen Augenblick erstarren, zu meinem Schrecken auf jede Bewegung verzichten, nur sein Blick wird sich heben und auf mich richten. Dann wird sein Mund sich langsam zu einem Lächeln verziehen.

»Nein, Papa, Germán ist nicht mit meinem Geld abgehauen. Lass ihm ein bisschen Zeit, die Sache ist ja noch ganz frisch, er wird sich bei mir melden, du wirst schon sehen, er meldet sich. Er ist ein Feigling, das stimmt, aber er ist trotzdem ein guter Mensch, einer, der Wort hält. Für ihn ist das alles bestimmt ganz schön kompliziert, so viel Geld auf einmal verstecken und gleichzeitig mit den eigenen Ängsten zurechtkommen, das ist kein Kinderspiel. Aber früher oder später ruft er an, und dann gibt er mir meinen Teil von der Kohle. Da bin ich ganz ruhig. Du wirst schon sehen, Papa, früher oder später wird genau das passieren.« Er wird mich weiter giftig anlächeln, reglos und ohne ein Wort zu sagen, bis er irgendwann das Glas an den Mund führen und gedankenverloren einen tiefen Schluck von seinem Whisky nehmen wird. Dabei wird er sich den nächsten aggressiven und verletzenden Satz zurechtlegen. Ich weiß, was er sagen wird. »Nein, auf dieses Vermögen werde ich nicht verzichten. Kapiert? Das neue Leben, das mich erwartet, werde ich mir nicht entgehen lassen. Ich bin auf unrechtmäßige Weise an die Kohle gelangt? Kann schon sein, aber geraubt habe ich sie nicht. Ich hab sie nur dem Räuber geraubt und mich davongemacht. Und weißt du was? Es ist mir egal, es ist mir so was von egal, was du dazu sagst.«

Er wird mich misstrauisch ansehen und die nächste Attacke vorbereiten. Er wird den Mund öffnen, um etwas zu sagen, aber ich werde schneller sein. »Worüber willst du sprechen, Papa? Egal. Ich will so oder so nicht mehr mit dir sprechen. Geh in dein Grab zurück, lass die Maden weiter ihre Arbeit erledigen, und bleib in deinem schwarzen Loch, und zwar für immer.« …

Mercedes Rosende
Der Ursula-Effekt[1]
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Unionsverlag
288 S., kt., 18,00 €

Mercedes Rosende, geboren 1958 in Montevideo, Uruguay, studierte Recht und Integrationspolitik. Neben ihrer schriftstellerischen Arbeit ist sie als Anwältin und Journalistin aktiv. Für ihre Romane und Erzählungen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, so 2008 mit dem uruguayischen Nationalliteraturpreis für La Muerte Tendrá tus Ojos.

Peter Kultzen, geboren 1962 in Hamburg, studierte Romanistik und Germanistik in München, Salamanca, Madrid und Berlin. Er lebt als freier Lektor und Übersetzer spanisch- und portugiesischsprachiger Literatur in Berlin.

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