nd-aktuell.de / 21.07.2021 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 15

Grundsätzlich geändertes Gefahrenspektrum

Anpassung an den Klimawandel ist schon lange im politischen Fokus auch in Deutschland. Gerade bei der Flächennutzung tut sich wenig

Verena Kern und Jörg Staude

»In diesem Sommer hat eine Flutkatastrophe vornehmlich Sachsen und Sachsen-Anhalt, aber auch Bayern, Brandenburg, Niedersachsen, Schleswig-Holstein sowie unsere Nachbarstaaten Österreich und Tschechien heimgesucht, die unser aller Vorstellungskraft überstieg und den Betroffenen Leid im schlimmsten Ausmaße brachte.« Mit diesen Worten leitete vor fast 20 Jahren der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) eine Sondersitzung des Parlaments ein. Ende August 2002, kurz vor der Bundestagswahl, bei der sich Gerhard Schröder (SPD) gegen Edmund Stoiber (CSU) durchsetzte, war das Parlament zusammengekommen, um das Flutopfer-Solidaritätsgesetz zu beschließen.

Was der damalige - nicht gerade als Ökofreak bekannte - Bundeskanzler Gerhard Schröder im Lichte der Flut in seiner Rede forderte, gilt im Kern noch immer: Schluss machen mit der weiteren Versiegelung von Landschaften und der weiteren Begradigung von Flussläufen. »Wir sollten auch bedenken, dass die nachhaltige Bewirtschaftung der Äcker und Felder bessere Möglichkeiten bietet, Wasser absickern zu lassen, als die intensive Bewirtschaftung von Flächen«, sagte Schröder.

In diesem Punkt hat sich zwei Jahrzehnte lang offenbar nicht viel bewegt. Am Dienstag schlug Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) angesichts der jüngsten Hochwasserkatastrophe im Deutschlandfunk vor, eine »Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Klimaanpassung« ins Leben zu rufen, um Äcker und Felder besser auf Wetterextreme vorzubereiten. Auch die Gemeinden müssten sich viel stärker auf den Klimawandel einstellen und dazu von Bund und Ländern in einer Art Daueraufgabe befähigt werden, so die Ministerin.

Den laufenden Wahlkampf im Blick, tut sich die Ministerin mit ordnungsrechtlichen Maßnahmen schwer. Ein Verbot von Schottergärten? Eher nicht, antwortete Schulze im Radio. Das sei ihr zu klein gedacht.

Ortwin Renn, Direktor am Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung in Potsdam, hält auch Umsiedlungen für sinnvoll, sofern Orte regelmäßig von Naturkatastrophen heimgesucht würden. Besonders gefährdete Gebäude sollten verlegt und bei Beschädigung nicht an derselben Stelle wieder aufgebaut werden. Um Orte zu schützen wie die stark betroffene Gemeinde Schuld im Landkreis Ahrweiler in Rheinland-Pfalz, die in einer engen Flussschleife liegt, rät der Risikoexperte, flussaufwärts Polderflächen zu schaffen, auf die sich das Wasser teilweise ableiten lässt. Das sei sehr viel preiswerter, als etwa Dämme unmittelbar im Ort zu errichten, wofür teilweise auch gar kein Platz sei.

Dass seit 2002 bei der Klimaanpassung in Deutschland gar nichts passiert ist, kann man aber nicht sagen: Seit 2008 gibt es eine vom Bund beschlossene Anpassungsstrategie mit Aktionsplänen, Monitoringberichten und mit einem Klimavorsorgeportal, das Kommunen, Unternehmen und die Zivilgesellschaft beim Umgang mit den Folgen des Klimawandels unterstützen soll. Seit mehreren Jahren bietet das Portal auch jede Menge guter Ratschläge, mit welchen Maßnahmen sich die Verwundbarkeit städtischer Infrastruktur gegenüber extremen Niederschlägen verringern lassen soll. Dazu gehört ein vorsorgendes Siedlungswassermanagement, das die Folgen von Starkregen durch Wasserrückhalt in der Fläche verringern und gleichzeitig sommerliche Hitze mindern kann.

In den Tagen nach der Katastrophe stehen aber - wie vor 20 Jahren - schnelle Hilfen im Vordergrund. Am Mittwoch will die Bundesregierung Sofortunterstützungen und ein milliardenschweres Aufbauprogramm auf den Weg bringen. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) sagte den Flutopfern mindestens 300 Millionen Euro zu. Die ersten Gelder sollen noch im Juli fließen. Neue Kredite will der Minister dafür zunächst nicht aufnehmen.

Grüne und FDP verlangten auch eine schnelle Sondersitzung des Bundestages. Das Parlament solle einen Hilfsfonds beschließen, erklärte der haushaltspolitische Sprecher der Grünen, Sven-Christian Kindler. Nötig sei auch ein Nachtragshaushalt, damit das Parlament die Gelder rasch freigeben könne. Für den Grünen muss zudem der Zivil- und Katastrophenschutz gestärkt werden. Handlungsbedarf bestehe unter anderem bei einem Frühwarnsystem für die Bevölkerung, das auch bei Stromausfall funktioniert.

Am heftigsten tobt der Streit, ob die tödlichen Folgen des Flutdramas nicht wenigstens teilweise vermeidbar gewesen wären. Eine britische Expertin, die an der Entwicklung des EU-Flutwarnsystems Efas beteiligt war, hatte schwere Vorwürfe gegen die Behörden erhoben. Efas habe schon 24 Stunden vor der Katastrophe fast genau vorhergesagt, welche Landkreise von Hochwasser betroffen sein würden, doch die Warnungen seien nicht bei den Menschen angekommen.

Der Chef des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Armin Schuster, wies die Vorwürfe mittlerweile zurück. Die Warninfrastruktur habe funktioniert, sagte er. Das Problem sieht er stattdessen in der Frage, wie sensibel die Behörden, aber auch die Bevölkerung vor Ort auf die Warnungen reagiert hätten.

Im internationalen Vergleich sei Deutschland eigentlich ganz gut aufgestellt, sagte Martin Voss von der Katastrophenforschungsstelle der FU Berlin. Allerdings fokussiere man sich auf schon bekannte Risiken, während sich das Gefahrenspektrum grundlegend geändert habe. »Wir müssen an diese veränderten Gefahren gut angepasst und auf diese gut vorbereitet sein - und das sind wir eindeutig nicht«, so Voss.

Eine große Debatte darüber, ob die Bevölkerung nicht rechtzeitig gewarnt wurde oder ob sie die Warnungen nicht mitbekam, gab es bei der Katastrophe vor 20 Jahren übrigens nicht. Und da waren die Warn-Apps für Smartphone und Tablet noch nicht erfunden.