nd-aktuell.de / 22.07.2021 / Gesund leben / Seite 7

Mehr als Tränen trocknen

Auch Flutopfer brauchen psychosoziale Notfallversorgung - bundesweite Stelle koordiniert Hilfe nach Katastrophen

Beatrice Clasmann

Ob Hochwasser, Terroranschlag, Erdbeben oder Busunglück - für jeden, der bei einem solchen Schreckensereignis einen geliebten Menschen oder die eigene Gesundheit verliert, bricht eine Welt zusammen. Experten wissen: Wenn staatliche Stellen in so einem Moment versagen, wenn sie die vielen Fragen der Angehörigen nicht klar beantworten und Hinterbliebene in ihrem Elend auch noch mit bürokratischer Stumpfheit quälen, kann das die Verarbeitung der schrecklichen Erlebnisse langfristig erschweren.

»Psychosoziale Notfallversorgung« heißt das, was da geleistet werden muss, im Fachjargon. Im Katastrophengebiet in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz werden Menschen, die für die Betreuung in solchen emotionalen Extremsituationen geschult sind, jetzt dringend gebraucht. Deshalb hat sich auch die Koordinierungsstelle Nachsorge, Opfer- und Angehörigenhilfe (NOAH) der Bundesregierung eingeschaltet. Das beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) in Bonn angesiedelte Team kommt laut gesetzlichem Auftrag eigentlich nur zum Einsatz, wenn Deutsche im Ausland von einem Busunglück, einem Flugzeugabsturz, einer Terrorattacke oder einer Naturkatastrophe betroffen sind. Es kümmert sich auch um Angehörige von Menschen, die im Ausland entführt wurden.

Seit dem vergangenen Donnerstag wird die Stelle aber auch für die Bewältigung der Hochwasserlage genutzt. Sie unterstützt Rheinland-Pfalz beim Aufbau sogenannter »Akutbetreuungsstrukturen« im Katastrophengebiet und vermittelt Notfallseelsorger für die Identifizierungskommission des Bundeskriminalamtes. Diese Kommission ist auf die Identifizierung von Toten bei Katastrophen mit einer hohen Opferanzahl spezialisiert. Da kommt es zu vielen schwierigen Situationen, etwa wenn Angehörige helfen sollen, Opfer zu identifizieren.

»Es ist sehr wichtig, dass in den ersten Stunden nach einem Anschlag oder einer Katastrophe qualifizierte psychosoziale Hilfe da ist. Damit die Betroffenen besser mit der Belastung klarkommen«, weiß Jutta Helmerichs, Leiterin der Koordinierungsstelle NOAH, aus langjähriger Erfahrung: »Versäumnisse am Anfang können langfristige negative Folgen haben.« Helmerichs hat festgestellt, dass die Bedürfnisse der Betroffenen sich ähneln und relativ unabhängig von der Art des Schadensereignisses sind.» Sie bräuchten möglichst rasch Gewissheit über das, was geschehen ist, Unterstützung im Umgang mit Behörden, manchmal auch die Vermittlung psychotherapeutischer Hilfe am Wohnort. Auch der Austausch mit anderen Betroffenen sei für viele von ihnen wichtig.

In Helmerichs Team ist jeder ausgebildet für den Umgang mit Emotionen wie Wut, Trauer oder Aggression. Notfälle, die Kinder beträfen, seien für die Mitarbeiter, die vor allem per Telefon und E-Mail agieren, besonders schwierig und belastend.

In den vergangenen Jahren sind in Deutschland vielerorts neue Hilfsangebote geschaffen worden für Menschen, die von Katastrophen oder Terroranschlägen betroffen sind. Das ist auch die Folge der harschen Kritik an der Art und Weise, wie in der ersten Phase nach dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 mit den Verletzten und Hinterbliebenen umgegangen wurde. Nach diesem schlimmsten islamistischen Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik haben alle Länder bis auf Brandenburg und das Saarland Opferbeauftragte berufen oder Anlaufstellen geschaffen. «Wir möchten verändern und das Bewusstsein schärfen und nicht nur kritisieren; schließlich wurden auch viele Anschläge bereits vereitelt und bei sämtlichen Behörden materiell, personell und finanziell aufgestockt», sagt Astrid Passin. Sie ist Sprecherin der Hinterbliebenen und Betroffenen des Anschlags auf dem Breitscheidplatz.

Den Hochwasseropfern in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen haben die Bundesregierung und die Landesregierungen jetzt schnelle unbürokratische Hilfe versprochen. Einige Mitglieder des Untersuchungsausschusses des Bundestages, der Behördenfehler rund um den Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz beleuchtet hat, fänden es gut, wenn NOAH künftig auch grundsätzlich als Anlaufstelle im Inland zur Verfügung stünde. Die Koordinierungsstelle arbeitet aktuell auf jeden Fall schon an sogenannten Musterrahmenplänen mit Checklisten für eine möglichst gute Opferbetreuung im Inland.

Die größte Herausforderung, die das Team von Jutta Helmerichs bisher bewältigen musste, war der Tsunami im Indischen Ozean im Dezember 2004, weil es so viele Betroffene gab. Innerhalb kurzer Zeit wurden 100 externe Kräfte der Notfallseelsorge gefunden. Die «Akutphase» dauerte drei Monate an. dpa/nd