nd-aktuell.de / 22.07.2021 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 13

Die Machenschaften der Sandmafia

Vince Beiser warnt, dass uns eine wertvolle Ressource förmlich durch die Finger rinnt

Gerhard Klas

Sand ist heute nach Wasser und Luft die wichtigste natürliche Ressource. Er sei das Fundament unserer modernen Zivilisation, so wichtig wie das Mehl fürs Brot, meint Vince Beiser gar. Weder Städtebau noch Hightech seien ohne Sand denkbar; dieser finde sich in Beton, Glas, Asphalt und in Computerchips. Der in Los Angeles lebende Journalist hat die Erkenntnisse seiner jahrelangen Recherche nunmehr in einem Buch zusammengefasst. Dessen Lektüre legt den Schluss nahe, dass Sand unsere Geschichte ähnlich prägt wie Öl, Gas und Kohle - mit bösen Nebenwirkungen. Als hätten wir mit Überschwemmungen, Wasser- und Luftverschmutzung, globaler Erwärmung und schließlich noch Pandemien wie Covid-19 nicht schon genug Probleme.

Beiser warnt und mahnt vor einer nicht minder gravierenden, menschengemachten Katastrophe: Der Abbau von Sand zu industriellen Zwecken führt etwa zum Verschwinden vieler Meeresstrände, vor allem in Ländern wie Indonesien, Indien und Kambodscha, aber auch in den USA. Der Autor verweist auch darauf, dass nicht jeder Sand für jede Art von Produkt geeignet ist. Der im Überfluss vorhandene Wüstensand beispielsweise. Denn dieser bietet kaum Haftungsfläche - anders als die Fluss- und Küstensande. Deswegen importiert Dubai den Sand für seine Wolkenkratzer häufig aus Australien. Und auch in Deutschland ist der Bedarf riesig: In einem Einfamilienhaus aus Beton stecken etwa 200 Tonnen Sand. Die Schäden für die Umwelt sind offensichtlich. Der Abbau von Fluss- und Meeressanden trägt in vielen Regionen zur Ufer- und Küstenerosion bei, die ohnehin durch den steigenden Meeresspiegel beschleunigt wird.

Beiser hat nicht nur Zahlen zusammengetragen, sondern erzählt Geschichten. Seine Reportagen und Porträts von Akteuren - ob Profiteure oder Leidtragende, Umweltaktivisten oder skrupellose Unternehmer - lassen sein Buch zuweilen wie einen Thriller erscheinen. Der Autor prognostiziert einen akuten Sandmangel bereits in wenigen Jahrzehnten. Der größte Treiber sei dabei der Städtebau. Als ein verheerendes Beispiel führt er New York an. Dies betrifft allerdings auch andere Metropolen. Die weltweite Stadtbevölkerung wachse jährlich um 65 Millionen. Hier allerdings differenziert der Autor zu wenig. Denn es ist ein gewaltiger Unterschied, ob die neuen Städter mehrheitlich in Neubauten wohnen oder in den Wellblechhütten der Slums. Wie auch in anderen Bereichen ist der ökologische Fußabdruck der Armen deutlich niedriger als der einer Mittelstandsfamilie.

Der zweite wichtige Treiber sei der Straßenbau: 1904 gab es in den USA nur 227 Kilometer befestigte Straßen, heute ist das dortige Verkehrssystem völlig am motorisierten Individualverkehr ausgerichtet. Zu den mehr als 250 000 Kilometern Highway kommen die State Routes und Interstate Highways sowie städtische Straßen und einfache Landstraßen. Die damit einhergehende Versiegelung von Naturflächen ist eine nicht zu unterschätzende ökologische Gefahr. Der vor allem in vielen Hollywood-Streifen kolportierte Traum der hochmodernen USA mit dicken Straßenkreuzern und luxuriösen Eigenheimen ist ein Albtraum.

Auch die globalen Verwertungsketten kommen in Beisers Buch zur Sprache. Bauunternehmer und Betonhersteller sind häufig global agierende Konzerne, viele Abbauunternehmen sind aber eher kleinteilig und regional tätig. Bestechung von Beamten gehört zum Geschäft, Umweltschützer werden mit Gewalt bekämpft, Enthüllungsjournalisten bezahlen mit ihrem Leben. Absoluter Spitzenreiter im illegalen Sandhandel ist Indien: Die Sandmafia macht dort jährlich Umsätze von 2,3 Milliarden US-Dollar. Und allein auf diesem Subkontinent sind in den vergangenen Jahren zahlreiche Journalisten ermordet worden, die zur Sandmafia recherchiert haben. Beiser selbst geriet mehrfach in bedrohliche Situationen.

Es geht um viel Geld. Die höchsten Preise erzielen heute hochwertige, reine Quarzsande, die für Computer- und Handychips benötigt werden: Bis zu 10 000 Dollar werden pro Tonne gezahlt - ein Preis, der deutlich über dem des Edelmetalls Kupfer liegt. Günstiger zu haben sind die Bestandteile des Betons: zermahlener Stein, Muscheln, Korallen und Quarzsande von minderer Qualität. Aber auch hier steigen wegen wachsender Nachfrage kontinuierlich die Preise.

Um den Raubbau zu beenden, setzt Beiser vor allem auf den Widerstand der Betroffenen, die durch Tagebaue vertrieben werden oder als Fischer ihre Existenzgrundlage verlieren. Aber ohne Solidarität mit den Leidtragenden werden die Kämpfe gegen Sandmafia und Umweltzerstörung zum Scheitern verurteilt sein. Beisers Vorschlag, für Sand ein Fairtrade-Siegel einzuführen, scheint dem Rezensenten unzureichend. In vielen EU-Ländern ist die Förderung von Flusssand mittlerweile verboten, auch in Deutschland. Das hat zu einer Verlagerung des Abbaus in Länder des Globalen Südens geführt, in denen der Markt noch nicht reguliert ist oder gesetzliche Vorschriften leichter unterlaufen werden können.

Vince Beiser Buch ist ein weiterer Beleg dafür, dass stetiges Wachstum als Mantra des kapitalistischen Wirtschaftssystems eine verheerende Illusion ist. Es sollte vor allem, aber nicht nur von jenen gelesen werden, die sich der Endlichkeit der Ressourcen bewusst sind und dagegen streiten.

Vince Beiser: Sand. Wie uns eine wertvolle Ressource durch die Finger rinnt. A. d. Amerik. v. Bernhard Jendricke, Christa Prummer-Lehmair u. Gerlinde Schermer-Rauwolf. Oekom-Verlag, 320 S., geb., 26 €.