nd-aktuell.de / 30.07.2021 / Politik / Seite 2

Nur zweimal pro Woche aus dem Haus

Vietnam versucht mit hartem Lockdown die Ausbreitung der Delta-Variante einzuschränken

Marina Mai

In einem Krankenhaus in Ho-Chi-Minh-Stadt. Die Handykamera schwenkt in einem großen Saal von Bett zu Bett. Es fehlt an allem, selbst an Bettwäsche. »Den ganzen Tag war kein Arzt hier«, sagt ein Mann. »Auch der Tote wurde noch nicht abgeholt.«

Vietnam, lange Zeit Musterkind in der Abwehr der Corona-Pandemie, ist zum Hotspot geworden. Der Süden des Landes und die Hauptstadt Hanoi stehen unter einem strengen Lockdown mit Ausgangssperre ab 18 Uhr. Bewohner bekommen Passierscheine, mit denen sie zweimal pro Woche das Haus zum Lebensmittelkauf verlassen dürfen. Viele Werke mussten die Produktion einstellen, andere ihre Beschäftigten in oder neben der Fabrik übernachten lassen.

Allein am Mittwoch wurden in dem 96 Millionen Einwohner zählenden Land 8000 neue Coronafälle gemeldet. Das ist ein Vielfaches der Fälle des gesamten Jahres 2020. Und viele Vietnamesen gehen davon aus, dass die wahren Zahlen deutlich höher liegen. Denn in der besonders betroffenen Metropole Ho-Chi-Minh-Stadt, mit neun Millionen Einwohnern größte Metropole im Land, ist die Lage außer Kontrolle. Und Vietnam meldet seit fast einer Woche die Zahl der an und mit Covid-19 Gestorbenen mit null. Vielen Menschen wissen aber von Toten, von zahlreichen Toten sogar.

Bis Mai war Vietnam glimpflich durch die Pandemie gekommen. Dreimal war das Land mehrere Monate lang völlig coronafrei. Während viele europäische Länder unter einem Lockdown standen, wurde in Vietnam gearbeitet und gefeiert.

Während dieser Zeit hatte Vietnam erfolgreich auf Prävention gesetzt und seine Stärken ausgespielt: Eine disziplinierte Bevölkerung, die den Anweisungen der Behörden widerspruchslos folgt und gegen Corona-Auflagen nicht vor Verwaltungsgerichten klagen kann. Die Maskenpflicht war in Vietnam nicht gewöhnungsbedürftig, trägt man doch dort als Schutz vor Verkehr- und Industrieabgasen seit Jahren Masken. Dazu die Abschottung: Seit dem Frühjahr 2020 ist die Einreise in das Land nur sehr wenigen Menschen gestattet, und die müssen ausnahmslos drei Wochen Quarantäne in staatlichen Isoliereinrichtungen absitzen. Gab es Infektionsfälle, wurden ganze Gemeinden oder Straßenzüge von der Außenwelt abgeriegelt. Schulen und Universitäten wurden trotz geringer Infektionszeiten über Monate geschlossen. Kontaktpersonen von Infizierten wurden bis zum vierten Grad isoliert, wobei Infizierte und deren Kontakte ersten Grades diese Zeit in staatliche Quarantäneeinrichtungen verbringen mussten.

Vom Vorbild zum Hotspot und zurück[1] - Indiens Corona-Lage hat sich seit den katastrophalen Rekordzahlen spürbar entspannt, variiert allerdings in den einzelnen Teilregionen enorm

Doch in einer globalisierten Welt hat die Null-Covid-Strategie der Hanoier Regierung Grenzen, seit die besonders ansteckende Deltavariante in vielen südostasiatischen Staaten wie Indien, Thailand, Kambodscha und Indonesien wütet. Es ist nicht mehr möglich, so viele Infizierte und ihre Kontaktpersonen in staatlichen Quarantäneeinrichtungen unterzubringen oder eine Millionenstadt abzuriegeln. Die inzwischen hoffnungslos überfüllten Quarantäneheime, oft in Kasernen, wo Kontaktpersonen von Infizierten dicht an dicht schlafen, haben sich längst selbst zu Hotspots der Übertragung entwickelt.

Aus Ho-Chi-Minh-Stadt gibt es eine regelrechte Massenflucht. Ganze Familien verlassen die Stadt auf Motorrädern oder zu Fuß, wie Videos zeigen. Sie fliehen aus Angst vor Corona, aber auch aus sozialer Not: Viele Betriebe haben die Produktion eingestellt. Sozialleistungen als Ausgleich für den Lohnverlust gibt es nicht. Die Mieten in der Metropole sind hoch und in den Dörfern, aus denen viele Ho-Chi-Minh-Städter einmal gekommen sind, gibt es Aussicht auf Reis, Erdnüsse und Fischfang. Dass durch die Massenflucht das Virus in andere Landesteile getragen wird, ist unvermeidlich, auch wenn an den Provinzgrenzen eigentlich ein Coronatest gefordert wird.

Jetzt rächt sich das ausgesprochen schwache Gesundheitssystem in Vietnam. Es ist so schlecht, dass sich wohlhabende Vietnamesen normalerweise in Taiwan oder Singapur behandeln lassen. Das funktioniert in der Pandemie nicht. Die Versorgung mit Essen, Reinigung und viele Pflegeleistungen in vielen Krankenhäusern werden normalerweise durch Angehörige der Patienten erbracht, womit die Patienten viel Geld für die ansonsten hohe Krankenhausrechnung sparen. Auch das ist in der Pandemie nicht möglich. »Ärzte müssen jetzt auch die Aufgaben der Krankenpfleger übernehmen«, meldet der staatliche Rundfunksender »Voice of Vietnam«. Zwar wurden auf die Schnelle mehrere Feldlazarette neu hochgezogen. Aber die waren im Nu voll, und medizinisches Personal ist knapp. Zudem kosten alle gesundheitlichen Leistungen in Vietnam Geld, seit kurzem auch die lange Zeit kostenlosen Coronatests.

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In Vietnam wurden nach offiziellen Angaben erst vier Millionen Bürger einmal geimpft, wenige hundert zweimal. Die Regierung hat das Ziel der Herdenimmunität für August 2022 angepeilt. Noch vor wenigen Tagen sollte sie es Ende 2021 erreichen. Das Land hatte lange Zeit auf die Entwicklung eines eigenen Vakzins gesetzt, das aber noch in der Testung steckt. Es ist nach Regierungsangaben unklar, ob es noch 2021 zur Verfügung steht. In den letzten Wochen hat das Land Verträge über den Ankauf von 124 Millionen Impfdosen unterzeichnet, muss sich aber hinter Staaten einreihen, die früher bestellt haben.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1155037.indien-vom-vorbild-zum-hotspot-und-zurueck.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1152777.mekong-land-unter-am-mekong-delta.html