Zwischen den Stühlen

Vor 60 Jahren wurde der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland aus der DDR ausgebürgert: Über das abenteuerliche Leben des protestantischen Theologen und Bischofs Kurt Scharf

  • Karsten Krampitz
  • Lesedauer: 17 Min.

Bei seinem Tod im Frühjahr 1990 hieß es, er habe das Herz gleich unter der Haut getragen. Der Journalist Gerhard Rein sagt, Kurt Scharf sei der liebenswürdigste Mensch gewesen, den er je in einer Kirche getroffen habe. »Ich spreche von einer Herzenswärme, die mir sonst nie begegnet ist.« Der ehemalige Redaktionsleiter für den Bereich Kirche und Gesellschaft beim »Süddeutschen Rundfunk« erinnert sich gut an den Berliner Bischof, der »unerbittlich« gewesen sei - in seinen politischen Ansichten. »Und das gepaart mit Liebenswürdigkeit, ist verdammt selten.«

Im Jahr vor seinem Tod, nur Monate vor dem Mauerfall, erklärte Kurt Scharf bei einem Podiumsgespräch von »Asyl in der Kirche« dem Publikum, dass schon das Alte Testament zum Schutz der Fremden und Flüchtlinge aufruft. »Abraham war Wirtschaftsflüchtling, das Volk Israel in Ägypten waren Wirtschaftsflüchtlinge.« Und auch das Neue Testament sei durchgängig ein Bericht über Flüchtlingsschicksale; Jesus habe schon als Kind die Flucht nach Ägypten erlebt und sei dann während seines ganzen Wirkens immer wieder Flüchtling außerhalb des Landes gewesen. Als Revolutionär, der für die Flüchtlinge, für die Entrechteten und Benachteiligten eintrat, sei Jesus verurteilt und hingerichtet worden. Der damals 86-jährige Altbischof sagte in die Runde: »Ich halte die Behauptung unserer Regierung über den sogenannten Asylmissbrauch, aber auch die gesamte Propaganda über die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge, für im Widerspruch stehend zur Ethik des Neuen Testaments«.

Literatur Kurt Scharf
  • Heinrich Albertz, Heinrich Böll, Helmut Gollwitzer u. a.: »Pfarrer, die dem Terror dienen«? Bischof Scharf und der Berliner Kirchenstreit 1974. Eine Dokumentation. Reinbek bei Hamburg, 1975.
  • Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e. V. (Hg): Kurt Scharf. Ein Leben für Gerechtigkeit und Frieden. Berlin, 2003.
  • Jens Müller-Kent: Vermächtnis für die Zukunft. Gespräche mit Helmut Gollwitzer und Kurt Scharf. München, 1989.
  • Kurt Scharf: Brücken und Breschen. Biografische Skizzen. Berlin, 1977. 
  • Reymar von Wedel: Kurt Scharf. Kämpfer und Versöhner. Berlin, 2010. 
  • Wolf-Dieter Zimmermann: Kurt Scharf. Ein Leben zwischen Vision und Wirklichkeit. Göttingen, 1992.

Wichtiger Kirchenmann

Kurt Scharf ist heute vergessen, dabei gibt es in seinem Leben so vieles, an das zu erinnern sich lohnte. Etwa seine Rede vor der UN-Vollversammlung in New York. »Liebe Geschwister auf dieser einen Erde«, sprach er die Vertreter der Staaten an, an jenem 24. Juni 1982 auf der Abrüstungskonferenz. Als Vorsitzender der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste fand er deutliche Worte: »Ich spreche zu Ihnen als Christ. Ich spreche zu Ihnen als Deutscher. Ich komme aus dem Land, das in diesem Jahrhundert in zwei Weltkriegen große Schuld auf sich geladen hat. Ich habe erlebt, wie schwer Kriegsschuld, Schuld an Holocaust und Genozid auf einem Volk als ganzem lastet und wie furchtbar sie sich rächt bis in die dritte und vierte Generation.« Scharf beschwor die Macht des Friedens durch Versöhnung. An jedem Tag, an dem weltweit Milliarden Dollar für Rüstung ausgegeben würden, stürben Zehntausende von Kindern an Hunger. »Das ist ein Gipfel der Gewalttätigkeit, ein unerträglicher Skandal.« Immer furchtbarere Waffensysteme würden erfunden, so Scharf. »Die atomaren Waffen sind kein Mittel der Politik. Auch ihr Gebrauch allein zur Drohung ist Lästerung Gottes.« - Ausgerechnet diesen Theologen hatte das »Neue Deutschland« als »Störenfried« und »Scharfmacher« diffamiert, als jemanden, der den »Atomkriegskanzler« Konrad Adenauer rechts überholen wolle. Ende August 1961 wurde Scharf aus der DDR ausgebürgert; der Artikel gegen ihn erschien zwei Wochen später.

Als Propst beziehungsweise Bischofstellvertreter für die evangelische Kirche in Brandenburg führte er immer noch den Titel »Präses«, der aus der Leitung der Brandenburger Bekenntnissynode herrührte. Tatsächlich aber war Präses Scharf damals so etwas wie der ranghöchste Protestant in beiden deutschen Staaten. Im Februar 1961 war er in das Amt des Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gewählt worden - als Nachfolger des Berliner Bischofs Otto Dibelius. Dass sich die Synodalen für einen Kandidaten entschieden, der kein amtierender Bischof war, hatte es in der Geschichte der EKD noch nicht und später nie wieder gegeben. Die Synode der EKD war die einzige parlamentarische Körperschaft Deutschlands, deren Mitglieder ordnungsgemäß aus beiden deutschen Staaten entsandt wurden.

Anders als heute war im Februar 1961 die Tagung des gesamtdeutschen Kirchenparlaments ein Ereignis. Kurt Scharf sagte seinerzeit der Presse, er sei sich bewusst, »dass die Wahl wegen meines Wohnsitzes in Ost-Berlin auf mich gefallen ist …« Dass ein DDR-Bürger EKD-Ratsvorsitzender geworden war, war für die SED kein Grund zur Freude. In einer damaligen Einschätzung der Arbeitsgruppe Kirchenfragen beim ZK hieß es über Kurt Scharf, er sei ein »prononcierter Verfechter der großkapitalistischen Ordnung« und schüre stets »in geschickter und raffinierter Weise die Politik des Kalten Krieges«.

Kurt Scharf gegen Otto Dibelius

Wer aber genau hinsah, dem fiel schon damals auf, dass dieser Kirchenmann in einigen Punkten geradezu ein Gegenmodell zu Otto Dibelius war. Erwähnt sei nur seine Haltung zum Militärseelsorgevertrag, gegen den Kurt Scharf, wenn auch erfolglos, in der EKD-Kirchenkonferenz votiert hatte. Auch war Kurt Scharf nie Antisemit; die Machtergreifung der Nazis hatte er nicht begrüßt. Otto Dibelius - der am »Tag von Potsdam« die Festpredigt gehalten hatte, zu der ihm Göring mit den Worten »Das war die beste Predigt, die ich in meinem Leben gehört habe« begeistert die Hand geschüttelt hatte - hatte auch den inhaftieren Ernst Thälmann aufgesucht, um dann am 4. April 1933 im Rundfunk zu verkünden: »An den Schauernachrichten über grausame und blutige Behandlung der Kommunisten in Deutschland ist kein wahres Wort.« Der von der SED so gehasste Kurt Scharf war dagegen nie Teil der NS-Propaganda. Gerhard Rein sagt, er habe sich oft gefragt, an welchen Gott Otto Dibelius wohl geglaubt hat. »Und ich bin ganz sicher: nicht an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, sondern vermutlich an einen deutschen Gott. Und das ist was ganz anderes als das, was Kurt Scharf geglaubt hat.«

Kurt Scharf gehörte zum linken Flügel der Bekennenden Kirche, den »Dahlemiten«. Sein Biograf Wolf-Dieter Zimmermann schreibt, er sei so etwas wie das Markenzeichen der Bekennenden Kirche in Brandenburg gewesen. »Der Mann mit den buschigen Augenbrauen und dem kantigen Gesicht spricht stakkatomonoton; aber was er sagt, wirkt, denn er vertritt die von ihm erkannte Wahrheit einfältig und eindeutig.« In einem Interview sagte Scharf einmal, dass es ein großer Fehler der Bekennenden Kirche gewesen sei, 1939 nicht zur Kriegsdienstverweigerung aufgerufen zu haben. Er selbst wurde 1940 eingezogen, nachdem er als Pfarrer in Oranienburg sieben Mal in »Schutzhaft« gekommen war und 15 Straf- und Disziplinarverfahren zu erdulden hatte. Im selben Jahr hatte die Kirche ihn mit der »Entfernung aus dem Amt« bestraft. In der Begründung, die sich heute im Evangelischen Zentralarchiv findet, wird ein Gottesdienst angeführt: »Vor Beginn des eigentlichen Gottesdienstes trat er vor die Gemeinde und löschte als Zeichen des Gedenkens an die gefangenen Brüder die Altarkerzen. Zum Schluss des Gottesdienstes wurden die Zahlen der in den Konzentrationslagern und Gefängnissen befindlichen Geistlichen bekanntgegeben und ihrer fürbittend gedacht. Eingeschlossen wurde auch eine besondere Fürbitte ›für die verfolgten Brüder und Schwestern Israels‹«.

Apokalyptische Theologie

Über seine Theologie schreibt Wolf-Dieter Zimmermann, dass sie von Anfang an »apokalyptische« und endzeitliche Akzente aufgewiesen habe. Kurt Scharf sei vom eschatologischen Denken Jesu stark geprägt gewesen. »Die apokalyptische Perspektive reflektiert den unaufhebbaren Gegensatz von gut und böse, Lehre und Irrlehre, Glaube und Verleugnung.« Die Bekennende Kirche habe »staatstreu« begonnen, als der Staat dann aber unverwechselbar satanische Züge angenommen habe, sei er für Christen wie Kurt Scharf zum Antichristen geworden. Dieses bipolare Denken, das die Machtergreifung der Nazis auf die Säkularisierung zurückführte, stellte in der Nachkriegskirche ein großes Problem dar - insbesondere in Bezug auf die frühe DDR. Die Vehemenz, mit der Scharf und andere Kirchenleute der Jugendweihe den Kampf ansagten, entbehrte jeder Verhältnismäßigkeit. Zu wie viel Unrecht hatten die Kirchenoberen bis dahin geschwiegen? Zur Judenverfolgung der Nationalsozialisten, zur Beseitigung der Demokratie von Weimar, zu den Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, … Die Einführung der Jugendweihe war offenbar ein derart ungeheuerlicher Vorgang, dass die Kirche nicht länger schweigen konnte. Erstmals erklärte im deutschen Raum eine Kirchenleitung den status confessionis - den Bekenntnisnotstand!

Über die Auseinandersetzung zur Jugendweihe berichtet Kurt Scharf in seinen Memoiren ausführlich, während er auf das »Darmstädter Wort« mit keiner Silbe eingeht, gleichwohl sich darin die Formulierung fand: »Wir haben es unterlassen, die Sache der Armen und Entrechteten gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich zur Sache der Christenheit zu machen.« Soweit bekannt, empfand Präses Scharf jene Wortmeldung der Bruderräte aus dem Jahr 1947 nicht als Hilfe für die existenziellen Fragen, vor denen sich seine Kirche in der SBZ gestellt sah. Doch während Bischof Dibelius noch gemeint hatte, die EKD theologisch an die politische Ordnung in Westdeutschland binden zu müssen, in seinen Publikationen gar von »Frauenbataillonen« in der Ostzone fabulierte, »die für die Besetzung Westberlins im Straßenkampf geschult werden«, ist Scharf nie mit solchen Stellungnahmen öffentlich geworden. Die Alleinherrschaft der SED in der DDR lehnte er ab, gleichzeitig war Scharf aber auch ein bedächtiger, auf Ausgleich und Versöhnung bedachter Kirchenmann, der nach Wegen suchte, wie kirchliches Leben langfristig in der DDR möglich sein konnte.

»Maßnahmen zur Grenzsicherung«

Bis zum Sommer 1961 war Berlin die einzige offene Stelle im Eisernen Vorhang, durch die mittlerweile jeden Monat Zehntausende DDR-Bürger ihr Land für immer verließen. Dass Chruschtschow und Ulbricht diese Lücke irgendwann schließen würden, wird Kurt Scharf geahnt haben. Als in den Morgenstunden des 13. August bewaffnete Einheiten der Betriebskampfgruppen die Staatsgrenze in Berlin absperrten und das »Neue Deutschland« auf seiner Titelseite den Beschluss des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik verkündete, »dem Treiben der westdeutschen Revanchisten und Militaristen einen Riegel vorzuschieben«, trat in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg eine zwei Jahre zuvor beschlossene Regelung in Kraft. Diese ermächtigte jeden der beiden Kirchenteile, selbstständig weiter zu agieren und eigene funktionsfähige Organe zu bilden. In seiner Autobiografie »Brücken und Breschen« erinnerte sich Scharf: »Diese Notverordnung hatte ich im Jahr 1959 der Synode (…) und der Kirchenleitung geradezu abgetrotzt, um für den Fall einer Trennung rechtlose Zustände zu vermeiden, die dem Staat einen Eingriff in die kirchliche Verwaltung ermöglicht hätten.« Eine Vorsorgemaßnahme, die seinerzeit in der Kirchenleitung, aber auch von Westberliner Politikern heftig kritisiert, von einigen sogar als »Defätismus« bezeichnet worden war.

Mit Inkrafttreten eben dieser Notverordnung fiel dem Propst von Brandenburg das neue Amt des »Bischofsverwesers« zu, das er jedoch nur für 18 Tage inne haben sollte. (Einer seiner Nachfolger war übrigens Albrecht Schönherr, der spätere Bischof der Kirche Berlin-Brandenburg, Region Ost und Vorsitzende des 1968 gegründeten DDR-Kirchenbundes) Der SED-Staat sollte die EKD-Organe auf seinem Territorium zwar nicht verbieten, deren Arbeit aber mit Ein- und Ausreisesperren weitgehend lahmlegen. Wie schwach die Kirchen schon damals waren, wird daran deutlich, dass ihre Repräsentanten die DDR-Regierung zur Großzügigkeit bei den Passierscheinen aufforderten, größerer Protest jedoch ausblieb. Doch selbst diese kleine Auflehnung, ein Telegramm an Ulbricht, das Scharf gemeinsam mit anderen DDR-Geistlichen verfasst hatte, rief auf Regierungsseite heftige Reaktionen hervor.

In seinen Memoiren erinnerte sich Kurt Scharf an den 18. August 1961, an das Gespräch mit Fritz Ebert im Roten Rathaus: »Der Oberbürgermeister von Ost-Berlin empfing mich nicht allein, sondern in Gegenwart seines Stellvertreters und des Berliner Polizeipräsidenten; dieser war in ›großer Uniform‹. Ebert machte mir heftige Vorwürfe wegen unseres Telegrammes, das in dieser hochgespannten Situation eine Gefährdung des Staates bedeute, und bot mir an, ich könne, da mir die Maßnahme der DDR nicht gefalle, ab sofort zu meiner Familie nach Westberlin übersiedeln. Ich lehnte dies entschieden ab. Das Gespräch endete mit einer schroffen Verwarnung.«

Die Ausbürgerung

Im Protokoll der SED-Politbürositzung vom 29. August 1961 findet sich der Beschluss: »Die für den 31.8.1961 im demokratischen Berlin geplante Tagung des Rates der EKD wird untersagt. Der Präsident der Volkspolizei Berlin, Gen. Eikemeier, wird beauftragt, Präses Scharf zu sich zu bestellen und ihm diese Anordnung mit einer entsprechenden politischen Begründung mitzuteilen. Die Sicherheitsorgane werden an den Grenzübergangsstellen die acht westdeutschen Mitglieder des Rates der EKD zurückweisen.« Ulbricht, Honecker und die anderen Politbüromitglieder beschlossen weiterhin: »Die Zurückführung von Präses Scharf nach Westberlin aufgrund der Tatsache, dass er im Besitz zweier Personalausweise ist und somit erneut die DDR-Gesetze verletze, wird verschoben. Falls Scharf einen Antrag für die Fahrt nach Westberlin stellt, wird dem entsprochen. Er kann dann nach dem demokratischen Berlin (sic!) nicht mehr zurück.«

Und so geschah es. Am 31. August musste Kurt Scharf nach Westberlin zur Sitzung des Rates der EKD, die sein Stellvertreter Bischof Lilje dorthin einberufen hatte. Scharf hatte einen Passierschein beantragt, den er prompt bekam, um in seinem Dienstwagen über die Grenze fahren zu können. Reymar von Wedel, viele Jahre Mitarbeiter von Scharf in juristischen Belangen, erinnert sich: »Am Abend wollte er in seine Ostberliner Wohnung zurückkehren. Aber an der Grenze wurden ihm seine Papiere abgenommen. Zwei Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes erklärten ihm, er sei in der DDR unerwünscht. Er dürfe Ostberlin nicht mehr betreten.« Wolf-Dieter Zimmermann schreibt: »Nun stand er am Grenzübergang Invalidenstraße ohne Auto, ohne Westgeld. Von einem Passanten am Lehrter Bahnhof borgte er sich zwanzig Pfennig …« - Den Besitz eines westdeutschen Personalausweises hat Kurt Scharf damals bestritten. Bei seiner Einbürgerung in die DDR 1951 habe er den alten Pass bei der Volkspolizei abgegeben. Über viele Jahre hatte er versucht, seine Familie aus dem Westteil der Stadt nachziehen zu lassen. In Grünau hatte er sogar ein Haus gekauft, wofür ihm die DDR-Behörden aber die Kaufgenehmigung verweigerten.

Offenbar hat es von Seiten der Kirche noch eine Zeit lang informelle Gesprächsversuche gegeben. In diese Bemühungen ist, als staatliche Reaktion darauf, der überaus gehässige ND-Artikel vom 17. September 1961 einzuordnen. Darin hieß es: »Jeder wird verstehen, dass Scharf als Verfechter der Politik des ›letzten Risikos‹ bei uns weder etwas zu tun hat noch zu suchen. Sein Aufenthalt bei uns ist schon deshalb nicht sinnvoll, damit uns niemand vorwerfen kann, Scharf hätte seine Anstrengungen, Adenauer rechts zu überholen, auf dem Boden unserer Republik praktizieren können. (…) Die Organe unseres Staates gaben ihm die Gelegenheit, in Westberlin zu bleiben. Nun ist Schluss mit den Möglichkeiten für Präses Scharf, bei uns sein getarntes Ostbüro für Frontstadt-Brandt zu unterhalten …« Im Interesse aller Christen liege es, »dass die Vertreter der ›Politik des letzten Risikos‹ und der Bonner Revanchepolitik rechtzeitig, wirkungsvoll und schnell ausgeschaltet werden …« »Politik des letzten Risikos« war für die SED damals ein Synonym für die »Bonner Ultras«, die einen Dritten Weltkrieg billigend in Kauf nehmen würden.

Womöglich ging es der SED-Führung und ihrem Zentralorgan gar nicht so sehr um Kurt Scharf als Person. Einige DDR-Bischöfe sprachen in seiner Sache im Staatssekretariat für Kirchenfragen vor. Wie aus einer Kirchennotiz hervorgeht, bekamen sie zur Antwort: »Die Trennung müssten alle tragen, oder glaube die Kirche vielleicht, den SED-Genossen falle die Trennung von den Düsseldorfer Kommunisten leicht?« – Denn nicht nur die Kirche hatte mit der Teilung in zwei deutsche Staaten zu kämpfen, auch die Partei. Aus einer gesamtdeutschen KPD war eine ostdeutsche Staatsmacht und eine westdeutsche Splitterpartei geworden, die der Westen dann auch noch verboten hatte (auf die SEW sei hier nicht eingegangen). Die Wechselbeziehung von KPD-Verbot in der BRD und Kirchenkampf in der DDR als Folge des Kalten Krieges ist von den Historikern noch lange nicht erforscht. Zur gleichen Zeit hatte sich die westdeutsche SPD für die evangelische Kirche geöffnet.

Ausgerechnet in Düsseldorf bekam im September 1961 der jüngste Abgeordnete im Landtag von Nordrhein-Westfalen einen Anruf, er möge umgehend nach Berlin kommen. Der Name des Jungpolitikers war Johannes Rau. Viele Jahre darauf erinnerte sich der spätere Bundespräsident: »Ich fuhr nach Berlin, ausgestattet mit dem Privileg eines Ausweises für Landtagsabgeordnete. Ich bekam den Auftrag, die Wohnung von Kurt Scharf leerzuräumen. Scharf durfte nicht zurück in den Ostteil der Stadt. Von da an bin ich einige Wochen jeden Morgen über die Friedrichstraße oder über den Checkpoint Charlie oder über die Heinrich-Heine-Straße in die Wohnung von Kurt Scharf gefahren und habe Koffer gepackt. Auf dem Rückweg habe ich versucht, den Volkspolizisten zu erzählen, wieso das grade meine Sachen wären, die ich da mitbrächte …«

Die Zeit im Westen

»Als ›Staatenloser‹ bin ich dann im Westen geblieben«, schrieb Kurt Scharf in seinen Erinnerungen. »Bis 1966 habe ich mit dem Reisepass der DDR gelebt, den ich behalten hatte und der bis zum Oktober 1966 gültig war. Aufgrund dieses Passes wurden mir vom Travelboard für Auslandsreisen besondere Papiere ausgestellt. Später habe ich mit einem Diplomatenpass der Bundesrepublik Deutschland diese Reisen durchführen können. Ihn musste ich nach Beendigung der Reise stets sofort wieder zurückgeben.«
In dieser Zeit hatten die evangelischen Kirchen in der DDR bereits etwa ein Viertel ihrer Mitglieder verloren, 1964 gehörten ihnen nur noch 59,4 Prozent der Bevölkerung an. Nach und nach löste sich der Protestantismus in Deutschland von seinen deutschnationalen Bindungen. Ein neues Denken suchte sich in der Kirche Raum.

Unter Scharfs Ägide erschien am 1. Oktober 1965 die später als »Ostdenkschrift« bekannt gewordene EKD-Erklärung »Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn«. Dieses Papier gehört zu den wichtigsten Publikationen der evangelischen Kirche im 20. Jahrhundert. Die »Ostdenkschrift« sollte den Boden für die Jahre später unter Willy Brandt einsetzende neue Ost- und Deutschlandpolitik mit vorbereiten; eine Politik, die zur Annäherung Polens und der Bundesrepublik führte. Dass zwischen beiden Staaten die DDR lag, hatte Kurt Scharf nicht vergessen, schon gar nicht die politischen Gefangenen dort. Seine Bemühungen konzentrierten sich auf eine Liste von gut einhundert Häftlingen. Auf eine Amnestie war nicht zu hoffen, und so kam es 1964 zu einer Vereinbarung zwischen der DDR und der EKD, vertreten durch Präses Scharf. Raymar von Wedel erinnerte sich später, dass die Kirche für die Freilassung der von ihr benannten Gruppe erhebliche wirtschaftliche Gegenleistungen zu erbringen hatte, beispielsweise drei Waggons Kali.

Bei diesem einen Häftlingsfreikauf sollte es nicht bleiben. Gemeinsam mit der katholischen Kirche bat die EKD die Bundesregierung um Beteiligung. Präses Scharf sprach beim damaligen Bundeskanzler Erhard vor, der sich einverstanden zeigte. Zwischen 1964 und 1990 erhielt die DDR für den Häftlingsfreikauf 3,4 Milliarden DM. Infolge dieser Zahlungen kamen ungefähr 33 000 Häftlinge frei und konnten gemeinsam mit circa 250 000 nichtinhaftierten Ausreisewilligen in den Westen übersiedeln.

Ein Bischof für den Teufel

Fünf Jahre nach seiner Ausbürgerung wurde Präses Scharf von der Ost- und der Westsynode seiner Landeskirche in das Bischofsamt der Kirche Berlin-Brandenburg gewählt, das er wie kein anderer prägen sollte. Bei den protestierenden Studenten genoss er hohes Ansehen, immerhin war dieser Bischof für den Teufel eingetreten. Sein damaliger Referent Reymar von Wedel dazu: »Eines Tages erschien Rudi Dutschke im Konsistorium, beim Bischof, und wollte Hilfe der Kirche haben für den verhafteten Fritz Teufel, den Verulker der Justiz (›Wenn’s der Wahrheit dient, Herr Staatsanwalt, stehe ich auf!‹). Da hat Scharf sich auch bemüht und der Teufel wurde freigelassen.«

Studenten, Lehrlinge, Heimkinder – sie alle waren 1967 in Aufruhr gegen die verkrusteten Strukturen, gegen alte Nazis in neuen Ämtern und vor allem gegen die eigenen Spießereltern. Und weil in der Stadt so viele brave Bürger um ihre Kirche bangten, weil der Kirchenchef offensichtlich mit Kommunisten gemeinsame Sache machte, veröffentlichte das Westberliner Konsistorium eine Stellungnahme, in der es hieß: »Der Bischof hat erklärt, dass er sich mit dem inhaftierten Studenten Fritz Teufel nicht in besonderer Weise verbunden fühlt. Wenn er in dieser Weise trotzdem aktiv geworden ist, so geschah es, um den gesellschaftlichen Frieden der Stadt zu fördern.« Im Jahr 1974, als er Ulrike Meinhof im Gefängnis besuchte, erlebte Scharf eine weitere mediale Hetzkampagne. »Pfarrer, die dem Terror dienen«, schrieb die Illustrierte »Quick«; die »Bild« ergänzte: »Handgranaten im Talar«. Die »Berliner Morgenpost« forderte: »Treten Sie zurück, Bischof Scharf!« Aber das ist eine andere Geschichte …

Die Öffnung der Grenze 1989 hat Kurt Scharf noch erlebt. Kurz vor seinem Tod sagte er in einem Interview des »Deutschlandfunks«, er wünsche sich, dass das Tempo zur deutschen Einheit ein »verständig-gemäßigtes« sein werde und auch, »dass soziale Errungenschaften, die es in der DDR ohne Zweifel gegeben hat und die in der DDR bewahrt worden sind, nun auch von der Bundesrepublik übernommen werden«. Am Mittwoch, dem 28. März 1990, war Kurt Scharf unterwegs zu einem Krankenbesuch bei seiner früheren Büroleiterin Senta Maria Klatt, die seit Jahren schon im Lichterfelder Johanniterheim lebte. An diesem Tag bestieg Altbischof Scharf den Linienbus Nummer 10, setzte sich auf die Bank ans Fenster und saß dort so lange, bis den anderen Fahrgästen auffiel, dass er sich nicht mehr rührte. Sein Kopf lehnte an der Scheibe. Bei der Trauerfeier in der überfüllten Marienkirche hieß es, Kurt Scharf sei gestorben, wie er immer gelebt habe: auf dem Weg zu den Menschen.

Karsten Krampitz ist Autor und Schriftsteller, zudem Mitglied der Historischen Kommission beim Vorstand der Linkspartei. An der Humboldt-Universität zu Berlin promovierte er 2015 zum Verhältnis von Staat und Kirche in der DDR. 2017 erschien bei Alibri sein Überblickswerk »›Jedermann sei untertan‹. Deutscher Protestantismus im 20. Jahrhundert. Irrwege und Umwege«.

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