nd-aktuell.de / 07.08.2021 / Sport / Seite 28

Hauptsache Durchhalten

Laufen ist in Japan Volkssport, der viele Tugenden verbindet. Der beliebte Marathon wurde Tokio aber genommen

Felix Lill, Tokio

Wer an einem pandemischen Hochsommermorgen in Tokio vor die Tür geht, den erschlägt zuerst die dicke, windstille Luft. Schon früh am Tag sind es oft 30 Grad, mit einer Luftfeuchtigkeit von 80 Prozent oder mehr. Zugleich fällt auf, wie viele Menschen dennoch im Anzug oder langem Kostüm zur Arbeit pendeln. Und dann sind da diejenigen, die sich von den widrigen Umständen auf andere Weise unbeeindruckt zeigen: Sie joggen, und das sogar mit Maske.

Die Liebe zum Laufen hat in Japan auch in Corona-Sommern kein bisschen nachgelassen. Die olympischen Athleten haben während der Spiele über Wetter und Klima geklagt. »Brutal« sei die Hitze, sagte der Tennis-Weltranglistenerste Novak Djokovic. Athleten »könnten sterben«, befürchtete der Ranglistenzweite Daniil Medwedew. Diese Umstände sind bei »Tokyo 2020«[1], wie sich die Spiele auch nach der pandemiebedingten Verschiebung um ein Jahr weiterhin nennen, oft Thema gewesen. Aber unter Hobbysportlern, die an ihrer regelmäßigen Bewegung nichts verdienen, wird sie nur zur Kenntnis genommen.

»Atsui ne«, heißt es oft nickend zur Begrüßung, ob zum gemeinsamen Joggen oder bei einem Geschäftstermin. »Es ist ja so heiß, oder?« Dann wird losgelaufen. Und da man hier, wo das Masketragen seit der Spanischen Grippe vor 100 Jahren Gewohnheit ist, selbst auf der Straße kaum Menschen ohne Mund- und Nasenschutz sieht, halten sich auch die Läufer daran. Egal, ob der Schutz nach 20 Minuten völlig durchnässt am Mund klebt, dadurch seine Wirksamkeit verliert, das Atmen dagegen schwerer wird. Es geht hier auch um die Etikette.

Aber es geht eben auch ums Laufen um jeden Preis. Kaum ein Sport ist als Hobby so beliebt wie dieses vermeintlich langweiligste, das viele Menschen als Qual empfinden. Vor Beginn der Pandemie konnte man allein in Tokio an jedem Wochenende aus mehreren Marathonwettbewerben auswählen, sich noch kurzfristig anmelden. Auch um kleinere Parks herum - dann eben in zehn Runden à 4,2 Kilometer - wurden Hobbywettbewerbe ausgetragen. Und die Menschen nehmen es dankend an. Bis Corona kam, dürfte Tokio, ohnehin die größte Metropole der Welt, zugleich auch die Welthauptstadt des Marathons gewesen sein.

Der Laufsport passt zum in Japan typischen Ansatz zu Sport und Freizeit. Oft vertieft man sich mit großem Ehrgeiz in eine Tätigkeit. Der Schriftsteller Haruki Murakami, selbst Marathonläufer, hat dies in mehreren Büchern beschrieben. Soziologen sagen, die Ernsthaftigkeit bei Hobbys habe zenbuddhistische Ursprünge, also das Auflösen seines Selbst im Gegenstand der eigenen Aktivitäten. Zwei im Alltag sehr gebräuchliche Begriffe unterstützen diese These: »Ganbatte!« ist ein Ausruf, der sich mit »Kämpfe!« oder »Strenge dich an!« übersetzt, aber auch bei allen möglichen kleinen Aufgaben gesagt wird. Und »gaman« ist die Tugend des Durchhaltens, die allseits hoch geschätzt wird. Im Marathon kommt beides zusammen.

Auch deshalb sahen sich die Organisatoren des »Tokyo Marathon« schon länger als natürlicher Standort für ein Rennen der »Majors«, der prestigeträchtigsten und werbeattraktivsten Marathonläufe der Welt, denen bis zum Jahr 2011 jedoch nur Berlin, Boston, New York, Chicago und London angehört hatten. Seitdem aber zählt auch Tokio zu dieser exklusiven Gesellschaft. Die Zahlen rechtfertigen das ohnehin. Mit knapp 40 000 Läufern, zehnmal so vielen Anmeldungsversuchen und einer Million Zuschauern an den Straßen war Tokios Marathon über die vergangenen Jahre hinweg längst der beliebteste der Welt.

Natürlich führt Laufen in Japan nicht immer gleich über 42,195 Kilometer. Die Tradition des Laufsports ist viel älter als der Kulturimport aus dem Westen. Da ist zum Beispiel der Staffellauf Ekiden, der unter Studierenden und Betriebssportlern bis heute populär ist. Der älteste Wettbewerb seiner Art startet seit 1920 kurz nach dem Jahreswechsel im südwestlich von Tokio gelegenen Hakone. Die je zehn besten Läufer mehrerer Universitäten bringen den Staffelstab durch kaltes Wetter, Steigungen, scharfe Kurven und eisige Winde - aber in sommerlichen Laufoutfits - über 217,9 Kilometer bis in die Hauptstadt Tokio.

Heute gibt es ähnliche Läufe das ganze Jahr über. Aber gerade der Hakone ist so beliebt, dass er live im Fernsehen übertragen und danach auch in den Zeitungen diskutiert wird. Denn in ihm erkennt man den geschätzten Kampf und das Durchhalten. Die jungen Läufer scheinen insofern als gutes Beispiel für ein ganzes Land. Dies ist ein Grund, warum sich Tokios Bewohner im Zuge der Olympischen Spiele eigentlich besonders auf den Marathon gefreut haben.

Nur wurde der schon Ende 2019, nach langen Diskussionen über die im Sommer starke Hitze und hohe Luftfeuchtigkeit, kurzerhand nach Sapporo verlegt, in die Hauptstadt der kühleren Nordinsel Hokkaido[2]. Zum Zeitpunkt des Entschlusses fühlten sich gerade diejenigen Tokioter hintergangen, die keine Tickets für andere Events hatten. Ohnehin galt in Tokio der Marathon als die größtmögliche Freiluftsportparty im Zuge Olympias.

Nun wird er dies wegen der Pandemie ohnehin nicht, und wegen der Verschiebung nach Sapporo fällt er in Tokio komplett aus. Aber in Erinnerung könnten die zwei Rennen der Frauen und Männer an diesem Wochenende trotzdem bleiben. In der Pandemie haben viele Menschen in Japan erst neu mit dem Laufen angefangen. Beim Joggen wie beim Umgang mit Corona geht es ja vor allem ums Durchhalten. So, wie die Topathleten ihren Sport über gut 42 Kilometer auch oft beschreiben.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1154768.olympia-tokio-hat-schon-verloren.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1127851.katharina-steinruck-der-mutter-auf-den-fersen.html