nd-aktuell.de / 14.08.2021 / Politik / Seite 6

Ein 20 Jahre altes Problem

Der sogenannte Krieg gegen den Terror hat Friedensbemühungen in Afghanistan konterkariert, sagt Thomas Ruttig

Cyrus Salimi-Asl

Wie erklären Sie sich die militärischen Erfolge der Taliban in den vergangenen Tagen? Die afghanischen Streitkräfte sollen mehr als 300 000 Soldaten haben, die Taliban nach Schätzungen höchstens 85 000 Kämpfer, bewaffnet vor allem mit Handfeuerwaffen.

Bei Zahlen und Taliban wäre ich vorsichtig, weil es keine stehende Armee ist. Es gibt zwar auch Vollzeitkämpfer, ihre Spezialtruppen, die sogenannten Roten Einheiten, viele andere sind aber Freizeitkämpfer und Leute, die zeitweilig mobilisiert werden können. Jetzt gibt es Zulauf von der anderen Seite der Grenze, aus Pakistan: Von dort kommen afghanische Jugendliche, die eine Koranschule besuchen – diese sind auch zu großen Teilen in Händen der Taliban. Generell kann man sagen, dass die Taliban über die Jahre und auch in letzter Zeit erheblich unterschätzt worden sind, und ich nehme mich da gar nicht aus. Ansonsten liegt ihre Stärke in der Schwäche der Regierung, und diese Schwäche existiert schon seit Langem: korrupte Strukturen, innerlich zerstritten etc.

Die Regierung selbst zeigte sich lange auch gar nicht ernsthaft an Frieden interessiert, denn das würde ja mit einer Machtteilung einhergehen, man müsste Macht abgeben. Das haben sie schon intern zwischen Präsident Aschraf Ghani und Abdullah Abdullah nicht gut hinbekommen. Und jetzt sollen sie die Macht teilen mit einer inzwischen übermächtigen anderen Partei, den Taliban; schon beim Friedensprozess hat die Zentralregierung Kabul zum Teil auf die Bremse getreten. Erschwerend hinzu kommt die Ankündigung des Abzugs der ausländischen Truppen und die Art und Weise, wie dieser bedingungslos durchgezogen wird.

Ihre militärischen Erfolge feiern die Taliban nun auch im Norden des Landes. Dabei stießen die mehrheitlich paschtunischen Taliban gerade hier, in den 90er Jahren, auf großen Widerstand, insbesondere in Gestalt der »Nordallianz«, in der vor allem Tadschiken, Usbeken und Hazara kämpften. Haben sich die innerethnischen Beziehungen gewandelt zwischen Pashtunen auf der einen und anderen ethnischen Gruppen auf der anderen Seite?

Absolut, das ist auch Teil der Story. Im Norden Afghanistans haben sich die Dinge seit den 80er und 90er Jahre grundsätzlich verändert. Die Taliban haben seit 2005/2006 in Nordafghanistan sehr systematisch angefangen, ihre ersten Zellen aufzubauen, dann ihre Strukturen ausgeweitet, Leute aus den örtlichen ethnischen Gruppen integriert, und sie haben auch Verantwortung übertragen auf der Kommandeursebene, für Provinz- und Distriktgouverneure. Vor 2001 waren das im Wesentlichen Paschtunen, also sozusagen Auswärtige, die man im Norden nicht gern gesehen hat.

Was noch viel wichtiger ist: Ihr Narrativ hat unter der dortigen Geistlichkeit verfangen, nämlich das Narrativ »Der Islam ist bedroht«, wie schon unter den Sowjets; »Wir sind besetzt von den amerikanischen Imperialisten« usw. Die Geistlichkeit, die in Nordafghanistan nicht wirklich eine politische Heimat hatte, hat diese nach 2001 mit den Taliban gefunden. Und dann haben die Taliban allen Beteiligten, der afghanischen Regierung, auch den Amerikanern, gezeigt, dass auf die Warlords und die Milizen dort nicht viel Verlass ist – nicht nur im Norden, auch im Südosten. Viele Distrikte und jetzt Provinzen sind ja kampflos an sie gefallen.

Kandahar und Herat sind gefallen, am Freitag haben die Taliban die Provinzhauptstadt Pol-e Alam erobert und stehen nur noch 50 Kilometer südlich von Kabul; die Nato hat am selben Tag eine Dringlichkeitssitzung einberufen. Der US-Sondergesandte Zalmay Khalilzad war diese Woche in Doha, um die Taliban zu besänftigen und zum Einstellen ihrer Offensive zu bewegen. Wie realistisch ist das?

Politische Augenwischerei. Gerade Khalilzad ist für das Desaster des US-Taliban-Abkommens 2020 verantwortlich, aus dem die afghanische Regierung rausgehalten wurde. Von der kann man ja halten, was man will, aber es ist die international anerkannte. Und es ist auch nicht gelungen, das, was die Delegation der Islamischen Republik Afghanistan genannt wurde, also Kabul, auf breitere Füße zu stellen, unter Einschluss der Zivilgesellschaft, über die bewaffneten Fraktionen hinaus. Das wird den Krieg in Afghanistan nicht beenden.

Khalilzad hatte immer freie Hand in den Verhandlungen, speziell als jemand, der aus Afghanistan kommt, die Sprachen spricht und mit den Leuten direkt redet. Auch von seinen Mitarbeitern haben viele wohl gar nicht mitgekriegt, was der da wirklich beredet hat. Er hat sehr große Macht, und die hat er immer noch. Das ist einer der späteren Fehler Bidens, ihn nicht abgelöst zu haben.

Würden Sie die derzeitige Lage allein dem Truppenabzug anlasten?

Nein, letztendlich ist das ein 20-jähriges Problem, das sich immer mehr aufgebaut hat und wovor die Regierungen im Westen bis kurz vor Schluss die Augen verschlossen haben. Jetzt spricht sogar Ministerin Kramp-Karrenbauer vom »unseligen« US-Taliban-Abkommen. Aber das soll auch bemänteln, dass man selbst Hauptverursacher der jetzigen Misere ist – ohne die afghanischen Eliten und die Führung da freisprechen zu wollen.

Es wird immer wieder darüber spekuliert, ob die Taliban sich geändert hätten, insbesondere, was ihre strengen Moralvorstellungen angeht und die daraus resultierenden Einschränkungen, vor allem für Frauen. Wie sehen Sie das?

Es gibt graduelle Veränderungen. Das sind nicht mehr die Taliban von vor 2001. Viele junge Kämpfer sind dazugekommen. Die haben ihre Verwandten ersetzt, die von den Amerikanern umgebracht worden sind. Die Moralvorstellungen werden sowieso geprägt von der afghanischen Gesellschaft, die sehr konservativ ist und auch durch den Widerstand gegen die sowjetische Besatzung konservativer geworden ist. Es ist nicht andersherum. Die Taliban setzten es dann gegenüber denen durch, die da nicht mitmachten.

Die Taliban haben sich insbesondere auf der Ebene der praktischen Politik verändert, aber sicherlich nicht in ihrer politischen Grundeinstellung. Sie haben 20 Jahre lang gelernt und ein wirklich erstaunliches Comeback hingelegt. Das macht sie natürlich sehr selbstbewusst. Derzeit gibt es zwei Tendenzen. Die eine ist die, die man auch in den Medien hört: »Wir gewinnen jetzt und üben Rache gegen alle diese Knechte der Amerikaner.« Und die anderen sagen, und das sind auch die Statements der Taliban-Führung: »Nein, niemand soll sich vor uns fürchten, wir wollen mit allen zusammenarbeiten.« Aber natürlich im Rahmen einer zukünftigen Staatsordnung und eines politischen Systems, das sie bestimmen, und das würde auf der Scharia basieren. Aber man muss den Leser*innen auch erklären, dass Scharia auch eine Auslegungssache ist und nicht nur mittelalterliche Strafen.

Es gibt eine schwache Hoffnung: Afghanistan wird auch mit einer Taliban-Regierung weiter von auswärtigen Mitteln abhängig sein. Sie können es sich also nicht mit der internationalen Gemeinschaft verscherzen und das Regime wieder so aufbauen, wie es bis 2001 an der Macht war.

Hamid Karsai hat im Juli in einem FAZ-Interview gesagt: »Die Taliban gehören zu diesem Land, sie sind Landsleute.« Das würde bedeuten, dass man wohl oder übel eine Übereinkunft finden muss, da die Taliban nicht einfach verschwinden werden.

Dazu lässt sich nichts weiter sagen, das ist so. Aber man muss ihnen natürlich Widerstand entgegensetzen bei einem eventuellen Rollback von Freiheitsrechten und den Taliban-Gegner*innen in Afghanistan dabei helfen. Die Spielräume werden allerdings klein sein.

Was war Ihrer Ansicht nach der größte Fehler, der zu dieser Lage geführt hat?

Die großen Fehler liegen ganz am Anfang. Es geht wirklich um 2001/2002, als der Krieg gegen den Terror Priorität über institutionellen und sozio-ökonomischen Wiederaufbau gewonnen hat. All das hat man letztlich der Bündnispolitik mit den Warlords geopfert.